Das Internet, einst als freier Raum für Austausch, Innovation und demokratische Teilhabe gefeiert, befindet sich heute in einer tiefen Krise. Der bekannte digitale Aktivist, Autor und Berater der Electronic Frontier Foundation, Cory Doctorow, zeichnet in seiner vielbeachteten Keynote bei PyCon US 2025 ein alarmierendes Bild davon, wie wir das Internet „verloren“ haben und warum der Status quo keineswegs alternativlos ist. Doctorow prägte den Begriff „Enshittification“ – ein Ausdruck für den schrittweisen Verfall zentraler Plattformen zu Angeboten, die Nutzer und ihre Bedürfnisse zunehmend ignorieren und ausbeuten. Wie kam es dazu, dass einstige Innovationstreiber heute als Monopolisten das digitale Leben beherrschen und häufig verschlechtern? Doctorow beginnt seinen Vortrag mit einem scheinbar unerwarteten Beispiel aus der Pflegebranche. Plattformen, die Pflegekräfte über Apps vermitteln, agieren wie „Uber für die Krankenpflege“: Die Bezahlung ist intransparent und wird algorithmisch an die individuelle finanzielle Not der Pflegekraft angepasst.
Werden Abläufe über solche digitalen Marktplätze „twiddled“ – also durch ständige Anpassung von Algorithmen manipuliert –, führt das zu Lohndumping, Unsicherheit und schlechterer Pflegequalität. Dieses Beispiel ist symptomatisch und illustriert typische Merkmale der Enshittification. Der Kernprozess dieses Niedergangs lässt sich in drei Stufen gliedern und zeigt sich exemplarisch am Suchgiganten Google. Anfangs investierte Google stark in Technik und User Experience und minimierte Werbung. Gleichzeitig bauten sie ihre Dominanz aus, indem sie andere Dienste und Plattformen finanziell dazu bewegten, ausschließlich Google als Suchmaschine einzubinden.
Mit der Nutzerbindung wuchs das Machtmonopol. Im zweiten Schritt nahm der Nutzer eine zunehmend nachrangige Rolle ein; Google verschob den Fokus weg von der Nutzerfreundlichkeit hin zu mehr Werbeeinblendungen und der Bindung von Geschäftskunden. In der abschließenden Phase wird der Mehrwert der Plattform so stark reduziert, dass nur noch das absolute Minimum an Qualität besteht – gerade genug, um Nutzer und Werbekunden auf der Plattform zu halten. Die Suche wird längst von bezahlten Anzeigen überlagert, und die organischen Suchergebnisse verlieren an Relevanz und Zuverlässigkeit. Wichtig ist dabei die Rolle der „twiddling“-Technik, also der Algorithmen, die Preise, Rankings, Anzeigen und Nutzerdaten in Echtzeit anpassen.
Etwa im Gig Economy-Sektor wird diese Praxis genutzt, um Löhne diskret zu senken und Arbeitsbedingungen zu verschlechtern, ohne dass Mitarbeitende dies wirklich durchschauen können. Dieses digitale „Drehen an Knöpfen“ ist ein mächtiges Werkzeug, das kapitalistische Profitmaximierung mit digitaler Technologie verbindet und dabei nicht nur Arbeitnehmer*innen, sondern auch Nutzer*innen als Kunden systematisch ausnützt. Doctorow widerspricht der gängigen Annahme, dass das Bezahlen für Produkte automatisch eine wünschenswerte Alternative zum „Gratis-Prinzip“ sei, bei dem Nutzer zur Ware werden. Er weist darauf hin, dass selbst bezahlte Modelle, etwa beim iPhone-Hersteller Apple, umfangreiche eigene Überwachungsmechanismen aufbauen, die Nutzer zum Produkt machen. Die verdeckten Sammlungen von Nutzerdaten und die monopolistischen Gebührenerhebungen im App Store zeigen, dass monetäre Bezahlung nicht automatisch Schutz vor Ausbeutung bietet.
Vielmehr sind es systemische Probleme, die Unternehmen in ihrem Interesse geformt haben. Die Frage, warum die Tech-Giganten sich überhaupt „enshittifizieren“ konnten, beantwortet Doctorow vor allem mit politischen Entscheidungen und regulatorischen Fehlentwicklungen. Seit Jahrzehnten wurden monopolistische Praktiken nicht nur toleriert, sondern aktiv ermöglicht. Die Interpretation von Wettbewerbsgesetzen hat sich seit den 1980er Jahren so gewandelt, dass Monopole als „effizient“ und daher unvermeidlich angesehen werden, was klassischen Wettbewerbsmechanismen den Boden entzieht. Darüber hinaus ist die Rolle von Daten und deren leichtem Erwerb durch Datengeschäfte zentral.
Datenschutzgesetze sind überfällig oder werden bewusst verzögert, sodass Unternehmen umfassend in das Privatleben der Nutzer*innen eingreifen können. Regulierungsbehörden sind häufig von der Industrie „gekapert“, was bedeutet, dass sie deren Interessen bevorzugt behandeln statt den Nutzer*innen zu dienen. Selbst einschneidende Maßnahmen wie das Digital Millennium Copyright Act (DMCA) machen es Bürger*innen oft illegal, digitale Systeme zu verändern oder zu reparieren. Das behindert Interoperabilität und verstärkt Monopolbildung – ein klassisches Beispiel ist die proprietäre Bindung von Druckerherstellern an eigene Tintenpatronen, die dadurch extrem teuer werden. Die vier regulativen Säulen, die die Verhinderung von Enshittification theoretisch sichern könnten, sind Märkte, Regulierung, Interoperabilität und Arbeitsschutz.
Doch alle diese Mechanismen wurden in den letzten Jahrzehnten untergraben. Märkte funktionieren nicht mehr effektiv, weil Unternehmen kleine Wettbewerber aufkaufen, statt mit ihnen zu konkurrieren. Regulierung bleibt wirkungslos oder ist Teil des Problems. Interoperabilität wird durch technologische „Fesseln“ und unnötige Schutzmaßnahmen wie DRM behindert. Der wichtigste Bastion gegen Enshittification war lange die Position der Arbeitskräfte: qualifizierte Tech-Mitarbeitende konnten schlechte Praktiken verweigern, da sie woanders schnell eine neue Anstellung fanden.
Doch massive Entlassungswellen seit 2023 schwächen diesen Schutz massiv. Trotz all dieser Herausforderungen öffnet Doctorow einen hoffnungsvollen Ausblick: Die Veränderung der Rahmenbedingungen durch Gesetzgebung und internationales Vorgehen gewinnt an Dynamik. Länder von Europa über Kanada bis Japan und China verbessern ihre Wettbewerbsregeln und setzen Regulierungen durch, die Monopole zerschlagen. Initiativen wie das Recht auf Reparatur werden angenommen, wenn auch oft durch Gegenmaßnahmen wie Anticircumvention-Gesetze erschwert. Letztlich ist der politische Wille entscheidend.
Doctorow fordert dazu auf, nicht länger in Kammerphilosophien oder resignativen Klagen zu verharren, sondern konkrete Schritte zum Wiederaufbau eines „guten Internets“ zu gehen. Er sieht das heutige Internet als „Übergangszustand“ zwischen einer komplexen, aber technisch anspruchsvollen Anfangsphase und einer neuen, demokratisch kontrollierten, benutzerfreundlichen und freien Zukunft. Eine solche Zukunft würde es ermöglichen, globale Krisen wie Klimawandel oder Aufstieg autoritärer Regime gemeinsam zu bekämpfen, indem sie Transparenz, Teilhabe und digitale Selbstbestimmung bietet. Sein Plädoyer ist klar: Der Zerfall und die Enshittification sind kein unausweichliches Schicksal. Sie sind Resultate gezielter politischer Entscheidungen, die korrigiert werden können.
Es braucht sozialen Druck, zivilgesellschaftliches Engagement und einen globalen politischen Willen, um die Macht der großen Techkonzerne zu begrenzen, Datenschutz durchzusetzen und die Kontrolle über digitale Technologien zurückzugewinnen. Nur so lässt sich die digitale Sphäre zurückerobern und eine erneuerte, offene Internetkultur etablieren, die den Interessen der Menschen und der Gesellschaft dient. Die Analyse und Warnungen von Cory Doctorow liefern somit unbequeme, aber notwendige Orientierungspunkte für alle, die an der Zukunft des Internets interessiert sind – sei es als Nutzer, Entwickler, Politiker oder Aktivist. Die Zeit des Abwartens ist vorbei. Das Internet ist zwar verloren, aber noch nicht für immer.
Jetzt beginnt der Kampf um eine bessere digitale Welt.