Die Automobilindustrie steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Autonome Fahrzeuge, die bislang vor allem als futuristisches Konzept galten, sind auf dem besten Weg, unseren Straßen Alltag zu werden. Schon heute rollen zahlreiche selbstfahrende Autos von Herstellern wie Waymo und Tesla auf den Straßen der USA. Diese technologische Entwicklung bringt erhebliche Auswirkungen für viele Wirtschaftssektoren mit sich – besonders für die Versicherungsbranche. Goldman Sachs, eine der führenden Investmentbanken weltweit, hat eine detaillierte Analyse veröffentlicht, die eine Halbierung der Versicherungskosten durch autonome Fahrzeuge prognostiziert und gleichzeitig auf neue juristische Herausforderungen hinweist, die sich bei der Klärung von Unfallursachen ergeben könnten.
Autonome Fahrzeuge versprechen laut Goldman Sachs enorme Sicherheitsvorteile. Durch den Wegfall menschlicher Fehlerquellen wie Ablenkung, Müdigkeit oder Fahrlässigkeit könnten Unfälle drastisch reduziert werden. Erste empirische Studien unterstützen diese Annahme: Ein von Waymo in Auftrag gegebener Bericht von Swiss Re aus dem Jahr 2024 zeigte, dass bei selbstfahrenden Autos Verletzungsschäden um 92 Prozent und Sachschäden um 88 Prozent im Vergleich zu konventionell gesteuerten Fahrzeugen zurückgingen. Diese Verbesserung hat eine direkte Auswirkung auf die Schadenhäufigkeit und somit auf die Kosten, die Versicherungsgesellschaften tragen müssen. Eine Reduktion von Unfällen führt zu weniger Schadensfällen und somit niedrigeren Auszahlungen.
Goldman Sachs schätzt daraus folgend, dass die Kfz-Versicherungskosten in den nächsten 15 Jahren von derzeit rund 0,50 US-Dollar pro Meile auf etwa 0,23 US-Dollar pro Meile fallen werden – ein Rückgang um mehr als 50 Prozent. Für Autofahrer bedeutet dies theoretisch eine deutlich günstigere Versicherung. Allerdings warnt Scott Holeman von der Insurance Information Institute davor, dass niedrigere Versicherungsprämien nicht zwangsläufig mehr Geld in den Geldbeutel der Verbraucher spülen werden. Autonome Fahrzeuge benötigen hochentwickelte Technologie und spezielle Sensorik, die ihre eigenen Kosten nach sich ziehen. Somit könne es bei einer Kostenverlagerung vom Versicherungsprodukt hin zur Fahrzeuganschaffung und Wartung kommen.
Neben den finanziellen Auswirkungen wirft die zunehmende Verbreitung autonomer Fahrzeuge vor allem Fragen zur Haftung und Rechtslage auf. In einer traditionellen Verkehrsunfallsituation bewerten Versicherungen und Gerichte meist menschliches Fehlverhalten, beispielsweise Fahrerfehler oder Missachtung der Verkehrsregeln. Bei selbstfahrenden Autos hingegen können Unfälle zunehmend auf technische Defekte, Softwarefehler oder gar Hackerangriffe zurückzuführen sein. Dies verschiebt die Verantwortlichkeit von Fahrern auf Hersteller und Entwickler von Fahrzeugsystemen sowie auf IT-Dienstleister, die Sicherheitssoftware bereitstellen und pflegen. Diese Veränderung stellt Versicherungen vor große Herausforderungen.
Die Ermittlung der Schuldfrage wird komplexer und oft mit höheren rechtlichen Streitigkeiten verbunden sein. Manche Experten sprechen von einem Paradigmenwechsel in der Haftungszuweisung, der neue Versicherungsprodukte und -modelle erfordert. So könnten Kombinationsversicherungen notwendig werden, die sowohl Fahrzeuginsassen als auch Hersteller und Softwareanbieter absichern. Gleichzeitig wächst der Markt für autonome Fahrzeugflotten, vor allem im Bereich des Ride-Sharing und für fahrerlose Lkws. Goldman Sachs prognostiziert, dass der Markt für autonome Fahrdienste bis 2030 auf rund 7 Milliarden US-Dollar wachsen wird und der Bereich autonomer Nutzfahrzeuge auf etwa 5 Milliarden US-Dollar ansteigen könnte.
Das erhöht zusätzlich den Bedarf an spezialisierten Versicherungen und Schadensmanagementprozessen. Die große Mehrheit der derzeit auf den Straßen fahrenden Fahrzeuge ist noch immer vom Menschen gesteuert. Goldman Sachs erwartet daher trotz der steigenden Zahl von autonomen Fahrzeugen in Flottenanwendungen wie Taxis und Lastwagen keine signifikante kurzfristige Zunahme bei privaten Fahrzeugen. Dennoch wird die Verbreitung und Akzeptanz der autonomen Technologie rapide wachsen, was auch regulatorische Anpassungen nach sich ziehen wird. Bahnbrechende Fortschritte bei der Technologieentwicklung sind maßgeblich auf die immensen Investitionen großer Tech-Konzerne zurückzuführen.
Alphabet, Mutterkonzern von Waymo, hat beispielsweise rund 11 Milliarden US-Dollar in autonome Fahrtechnologien investiert, davon allein 5,6 Milliarden US-Dollar in der jüngsten Finanzierungsrunde im Oktober 2024. Tesla-Schef Elon Musk kündigte bereits an, dass seine autonomen Robotaxis noch im Jahr 2025 im texanischen Austin ihren Betrieb aufnehmen werden. Diese Kapitalflüsse beschleunigen nicht nur die technische Reife, sondern auch die Marktdurchdringung. Zwar entstehen dadurch für Verbraucher neue Kostenstrukturen, langfristig könnten autonome Fahrzeuge jedoch zu erheblichen Einsparungen im Gesundheitswesen, bei Schadensregulierungen und Verkehrsstaus führen. Das erhoffte Sicherheitsplus senkt nicht nur Versicherungsauszahlungen, sondern entlastet auch das gesamte gesellschaftliche Verkehrssystem.
Autonome Fahrzeuge könnten mittelfristig die Zahl an Verkehrsunfällen erheblich senken. Dies würde die Fahrt sicherer, komfortabler und günstiger machen. Allerdings bleiben viele Fragen ungeklärt. So stellt sich die Frage, wie Versicherungen mit alternierenden Haftungskonstellationen umgehen, wenn beispielsweise eine Softwarekomponente vom Hersteller versagte, der Fahrer jedoch ebenfalls Einfluss auf die Straße nahm. Ebenso erfordert der Schutz vor Cyberangriffen neue Sicherheits- und Risikomanagement-Strategien.
Es wird erwartet, dass sich die Versicherungsbranche in den kommenden Jahren stärker technologisch ausrichten und eng mit Automobilherstellern kooperieren muss. Insgesamt bietet die aufkommende Ära der autonomen Fahrzeuge immense Chancen, birgt aber zugleich Herausforderungen, die über die reine Technik hinausgehen. Die Umgestaltung des Versicherungsgeschäfts, die juristischen Antworten auf Haftungsfragen und die Anpassung an neue Mobilitätskonzepte sind zentrale Fragestellungen, denen sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen stellen müssen. Goldman Sachs' Prognosen sind ein markantes Signal für die Zukunft des Verkehrs und der Mobilität, die nachhaltiger, sicherer und effizienter gestaltet werden kann – wenn die Weichen heute richtig gestellt werden.