Kanada ist flächenmäßig das zweitgrößte Land der Erde, doch seine Bevölkerung ist auf verhältnismäßig wenige Regionen an der Südgrenze konzentriert. Über 80 Prozent der Kanadier leben in einer Zone innerhalb von etwa 100 Meilen entlang der Grenze zu den Vereinigten Staaten. Diese auffällige Konzentration wirft viele Fragen auf: Warum ist die Bevölkerung auf wenige Zentren konzentriert? Was macht diese Orte so attraktiv und andere Regionen so unbewohnt? Die Antwort liegt in einem komplexen Zusammenspiel von Geografie, Klima, Geschichte und wirtschaftlichen Faktoren. Die südliche Grenze Kanadas ist hierbei nicht nur eine politische Grenze, sondern bildet gleichzeitig eine Schnittstelle mit viel lebhafteren urbanen Räumen, die eng mit den USA verbunden sind. Die Stadtstrukturen entlang der Grenze zeigen erstaunliche Parallelen zu den benachbarten amerikanischen Gebieten.
Straßen- und Lichtmuster bei Nacht machen deutlich, dass die Standorte der Bevölkerung in Kanada vielmehr als Fortsetzungen der urbanen Zonen in den USA zu verstehen sind als als autonome Zentren weit im Norden. Die historische Entwicklung Kanadas spielt dabei eine zentrale Rolle. Die ersten europäischen Siedlungen entstanden an den Flussläufen des St. Lawrence und in der Nähe der Großen Seen, weil diese für den Transport und Handel optimal waren. Die französischen Kolonisten wie auch die späteren britischen Herrscher nutzten vor allem den St.
-Lorenz-Strom als Lebensader und Verbindung zu den Binnenregionen. Städte wie Montreal und Toronto haben sich an wichtigen Schiffsnavigationspunkten entwickelt, die Zugang zum Atlantik und zu den Ressourcen des Kontinents boten. Der Zugang zu Wasser, sowohl für den Transport als auch für landwirtschaftliche Zwecke, war und ist ausschlaggebend für eine florierende Bevölkerung. Die fruchtbaren Böden im Südosten Kanadas sind eine Folge geologischer Prozesse, die Millionen Jahre zurückreichen. Einst lag diese Region unter einem flachen Binnenmeer, dem sogenannten Western Interior Seaway.
Die Ablagerungen aus dieser Zeit haben extrem nährstoffreiche Böden hinterlassen, was besonders in den Provinzen Quebec, Ontario und bis nach Manitoba für landwirtschaftlichen Reichtum sorgt. Im Kontrast dazu steht der kanadische Schild, ein riesiges Gebiet aus uraltem Granitgestein, das sich über weite Teile des Landes erstreckt. Die Böden dort sind dünn, nährstoffarm und schlecht für Landwirtschaft geeignet. Die Landschaft ist durchzogen von Felsen, tausenden Seen und sumpfigen Gebieten, was eine Besiedlung enorm erschwert. Besonders im Norden und Zentrum des Landes entzieht sich diese Gegend nahezu jeglicher menschlicher Nutzung außer in den wenigen Städten, die strategisch oder wirtschaftlich motiviert sind.
Das kalte Klima in Nordkanada ist ein weiterer limitierender Faktor. Die langen, harten Winter, kurze Vegetationsperioden und niedrige Durchschnittstemperaturen machen weite Teile des Landes wenig einladend für eine dauerhafte Besiedlung. Die nördlichsten Städte sind oft vergleichbar mit abgelegenen Außenposten, die hauptsächlich von Ressourcenindustrie, Forschung oder militärischen Aufgaben leben. Ein weiterer großer Ballungsraum findet sich in den sogenannten Palliser-Dreieck um die Städte Calgary, Edmonton und Winnipeg. Diese Region zeichnet sich durch vergleichsweise fruchtbaren Boden aus, der aus kreidezeitlichen Sedimenten stammt, und ein kontinentales Klima mit relativ warmen Sommern und ausreichender Niederschlagsmenge, bedingt durch die nahegelegenen Rocky Mountains, aufweist.
Dennoch ist die Bevölkerungsdichte hier weit geringer als in den südöstlichen Provinzen, da Landschaften trockener und klimaextremer sind. Die westliche Küste um Vancouver bildet eine weitere Bevölkerungsinsel, stark geprägt von den geografischen Gegebenheiten. Die Küstenberge fallen hier nahezu steil zum Meer ab, was die Siedlungsgebiete eindämmt. Das angenehme milde Klima und die Zugangsmöglichkeiten zu Handelsrouten im Pazifik bilden jedoch Gründe dafür, dass sich viele Menschen in diesem relativ kleinen Gebiet konzentrieren. Insgesamt erklärt sich Kanadas Bevölkerungsverteilung durch eine Koexistenz von attraktiven Lebensräumen im Süden und einem riesigen, oft unwirtlichen Hinterland.
Die historische Entwicklung, die natürliche Umwelt und wirtschaftliche Rahmenbedingungen schaffen ein Umfeld, in dem urbane Zentren wachsen können, während große Flächen nahezu menschenleer bleiben. Trotz des großen verfügbaren Landes kämpfen Städte mit Herausforderungen wie Wohnungsnot, da neue Siedlungen insbesondere in den besseren Regionen schwer zu entwickeln sind. Die verschiedenen Regionen Kanadas präsentieren zudem unterschiedliche kulturelle Identitäten, die aus den Wurzeln ihrer Besiedlung resultieren. Besonders die französischsprachige Provinz Quebec erzählt die Geschichte französischer Kolonisierung, die eng mit der Nutzung der Flüsse und Handelswege verbunden ist. Das Zusammenspiel dieser Faktoren macht Kanada zu einem Land mit einzigartiger demografischer Struktur, deren Verständnis eine wichtige Voraussetzung ist, um zukünftige politische, wirtschaftliche und soziale Fragen zu beantworten.
Die Bevölkerungskonzentration in Kanada ist kein Zufall, sondern eine Folge von Jahrtausenden geologischer Entwicklung, Jahrhunderten der europäischen Kolonisierung und den klimatischen Bedingungen, die weit über reine politische Grenzen hinauswirken. Wer Kanada verstehen möchte, muss diese enge Verflechtung von Natur, Geschichte und menschlicher Aktivität beachten, denn sie prägt die Herausforderungen und Chancen einer der faszinierendsten Bevölkerungsverteilungen der Welt.