Seit Jahrzehnten stellt die Frage nach der sogenannten fehlenden Materie im Universum eine der größten Herausforderungen der Kosmologie dar. Astronomen wussten, dass etwa fünf Prozent des gesamten Universums aus gewöhnlicher Materie bestehen – also aus allem, was aus Protonen, Neutronen und Elektronen aufgebaut ist und nicht zu Dunkler Materie oder Dunkler Energie zählt. Doch der genaue Aufenthaltsort dieses Materials war lange Zeit ein Mysterium. Während Sterne, Planeten und Galaxien nur einen kleinen Teil der gesamten baryonischen Materie ausmachen, fehlte der Großteil offensichtlich und wurde daher als „fehlende Materie“ bezeichnet. Ein neuer Durchbruch, der auf der Auswertung von schnellen Radioblitzen (Fast Radio Bursts, FRBs) beruht, bringt nun Licht in dieses kosmische Rätsel und zeigt, wo sich die verborgene Materie tatsächlich befindet.
Die schnelle Radioblitze haben in den letzten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit in der astrophysikalischen Forschung erlangt. Diese extrem kurzen, aber sehr intensiven Radioimpulse stammen aus fernen Galaxien und erreichen die Erde mit unvergleichlicher Helligkeit. Obwohl die Natur der Quellen von FRBs noch nicht vollständig verstanden ist, können die Signale selbst als effektive Werkzeuge genutzt werden, um das intergalaktische Medium zu untersuchen. Die Radiosignale verändern sich nämlich, wenn sie beim Durchqueren des Universums auf Gaswolken oder andere Materie stoßen – insbesondere verlangsamt sich die Ausbreitung der Impulse durch ionisiertes Gas. Indem Astronomen diese Verzögerungen genau messen, gewinnen sie wertvolle Informationen über die Dichte und Verteilung des ansonsten unsichtbaren materials zwischen den Galaxien.
Forscher vom Center for Astrophysics Harvard & Smithsonian (CfA) und dem California Institute of Technology (Caltech) haben mit Hilfe von 60 analysierten schnellen Radioblitzen eine bahnbrechende Erkenntnis gewonnen. Die Daten zeigen, dass etwa 76 Prozent der gesamten gewöhnlichen Materie im sogenannten intergalaktischen Medium (IGM) in Form von heißem, dünn verteiltem Gas liegt, das sich in den riesigen Räumen zwischen den Galaxien befindet. Weitere 15 Prozent sind in den Halo-Bereichen der Galaxien lokalisiert – den sphärischen Regionen aus Materie, die Galaxien umgeben – während nur ein kleiner Bruchteil in Sternen oder kaltem galaktischem Gas zusammengefasst wird.Dieses Ergebnis bestätigt erstmals direkt die Annahmen von früheren Simulationen und theoretischen Modellen, welche vermuteten, dass die „fehlende“ baryonische Materie nicht verloren gegangen, sondern schlichtweg sehr diffus verteilt und daher schwer nachzuweisen ist. Die heiße, ionisierte Gaswolke im intergalaktischen Raum entzieht sich optischen und sogar vielen anderen Beobachtungsmethoden, weil sie keine starken Signale aussendet.
Die schnelle Radioblitze geben den Forschern nun aber ein neues Instrument an die Hand, um diese fast unsichtbaren Gaswolken zu detektieren und so die Materieverteilung im Kosmos erstmals systematisch zu kartieren.Der sogenannte „missing baryon problem“ – das Problem der vermissten baryonischen Materie – war also nie ein Zweifel daran, dass die Materie existiert, sondern viel mehr die Frage, wo sie sich befindet und wie sie verteilt ist. Die neuen Erkenntnisse zeigen, dass sich die Materie zu einem großen Teil im sogenannten kosmischen Netz befindet – dem filigranen Geflecht aus Gas und Dunkler Materie, das das Universum großräumig strukturiert. Dieses Netz verbindet Galaxien und Galaxienhaufen miteinander in gigantischen Filamenten und stellt die Hauptstruktur des Universums dar.Das Zusammenspiel von Gravitation und astrophysikalischen Prozessen sorgt dafür, dass baryonische Materie immer wieder zwischen Galaxien und dem intergalaktischen Raum hin- und herbewegt wird.
Supermassive Schwarze Löcher und Supernova-Explosionen erzeugen mächtige Ausströmungen, die Gas aus den Galaxien hinaustreiben und somit das IGM mit frischer Materie versorgen. Dies bildet eine Art kosmischen Thermostat, der den Energiehaushalt und die Zusammensetzung des intergalaktischen Mediums stabilisiert und erhält.Die Forschung basiert auf einer starken internationalen Zusammenarbeit und den Fortschritten moderner Teleskop-Technologie. Durch die rasche Zunahme der Anzahl detektierter schneller Radioblitze, welche mit neuen, hochempfindlichen Radioteleskopen entdeckt werden können, eröffnen sich für die Astronomie neue Möglichkeiten, die Entwicklung, Verteilung und Zusammensetzung des Universums detailliert zu untersuchen. Die Entdeckung von FRB 20230521B, dem fernsten bisher bekannte schnellen Radioblitz, führte zu wichtigen Einblicken in die Verteilung baryonischer Materie bis in große Entfernungen des Kosmos.
Die Vielfalt und Entfernung der untersuchten Ereignisse erlauben es den Wissenschaftlern, die Materieverteilung über weite Zeiträume und Regionen des Universums hinweg zu verstehen.Dieser Durchbruch ist nicht nur für das grundlegende Verständnis der Kosmologie von Bedeutung, sondern hat auch Auswirkungen auf verwandte Forschungsfelder wie die Entstehung und Entwicklung von Galaxien, die Rolle von Dunkler Materie und Energie sowie auf die Bedingungen, unter denen Leben überhaupt entstehen kann. Zu verstehen, wie die Materie im Kosmos verteilt ist und sich bewegt, zeigt auf, welche dynamischen Prozesse unser Universum prägen und wie es in Zukunft weiter evolvieren wird. Dies gibt zugleich Impulse für neue Theorien und Simulationen, die das Verhalten von Materie unter extremen Bedingungen modellieren.Die Erkenntnisse zum Aufenthaltsort der fehlenden Materie verändern damit das Bild des Universums gravierend.
Sie lassen es plastischer und nachvollziehbarer erscheinen, denn anstatt eines Universums, dessen Materie offensichtlich nicht auffindbar war, zeigt sich ein komplexes, dynamisches Ökosystem, in dem Materialien zwischen den Weltraumregionen permanent ausgetauscht werden. Dank der schnellen Radioblitze gelingt es Astronomen erstmals, die verborgenen Sphären zwischen den Galaxien zu dokumentieren und detaillierter zu erforschen als je zuvor.Die Zukunft der Astronomie wird davon profitieren, dass mit dem rasanten Fortschritt bei der Detektion von FRBs immer mehr Signale aus den Tiefen des Weltalls empfangen werden. Ein besseres Verständnis der baryonischen Materie wird in den kommenden Jahren wohl weitere fundamentale Geheimnisse des Universums offenbaren und neue Fragen aufwerfen, die uns tiefer in die Komplexität und Schönheit der kosmischen Strukturen führen.Insgesamt steht die Wissenschaft vor einer spannenden neuen Ära, in der klassische Grenzen der Beobachtbarkeit überwunden werden.
Die Lösung des Rätsels um die fehlende Materie im Universum ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem umfassenden Bild des Kosmos, in dem alltägliche Materie, trotz ihrer scheinbaren Unsichtbarkeit, in einem riesigen, dynamischen Geflecht miteinander verbunden ist und dessen Geheimnisse nur darauf warten, entschlüsselt zu werden.