Warum nehmen Mädchen häufig Puppen in die Hand, während Jungen oft zu Spielzeugautos oder Bällen greifen? Diese Frage beschäftigte viele Generationen von Eltern, Erziehern und Wissenschaftlern. Lange ging man davon aus, dass kulturelle Rollenzuweisungen und Erziehung der Hauptgrund dafür seien, dass Mädchen und Jungen unterschiedliche Spielzeugpräferenzen zeigen. Doch neuere Forschungen aus Psychologie, Verhaltensbiologie und Evolutionswissenschaft eröffnen ein komplexeres Bild und verdeutlichen, dass diese Vorlieben schon sehr früh im Leben entstehen und tief in der Biologie verwurzelt sind. Im Jahr 2012 veröffentlichte Natalie Wolchover auf Live Science eine aufsehenerregende Zusammenfassung wissenschaftlicher Erkenntnisse, die darauf hinweisen, dass geschlechtsspezifische Spielzeugpräferenzen nicht allein durch Erziehung oder gesellschaftlichen Einfluss entstehen. Experimente mit verschiedenen Affenarten zeigten, dass männliche Jungtiere gleichermaßen mehr Interesse an Spielzeugautos mit Rädern zeigten, während weibliche Jungtiere eher Puppen bevorzugten.
Da Affengesellschaften keine geschlechtstypischen Erwartungen hinsichtlich Spielzeugen oder Pflegeverhalten haben, spricht dies stark für eine biologische Grundlage dieser Vorlieben. Ein zentraler Faktor im Erklärungsansatz ist der Einfluss von Hormonen, insbesondere von Androgenen wie Testosteron, die während der Schwangerschaft auf das ungeborene Kind wirken. Säuglinge werden durch pränatale Hormonspiegel geprägt, was sich bereits wenige Monate nach der Geburt in ihren Blickpräferenzen manifestiert. So konnten Wissenschaftler mit modernen Verfahren des Eye-Trackings feststellen, dass drei- bis vier Monate alte Jungen mehr Zeit mit dem Betrachten von Jungen-typischem Spielzeug wie Autos und Bällen verbringen, während Mädchen eher Puppen bevorzugen. Interessanterweise hängt der Grad dieser Präferenz mit dem hormonellen Hintergrund zusammen, der sich mittels digitaler Längenverhältnisse von Fingern abschätzen lässt – je „männlicher“ die Fingerverhältnisse, desto stärker das Interesse an Jungen-typischem Spielzeug.
Zusätzlich stützen Studien mit Mädchen, die unter der seltenen Erkrankung der kongenitalen adrenalen Hyperplasie leiden, die hormonbasierte Erklärung. Diese Mädchen sind im Mutterleib ungewöhnlich hohen Mengen an Androgenen ausgesetzt und zeigen eine verstärkte Bevorzugung von Jungen-typischen Spielzeugen, was gesellschaftliche Einflüsse allein widerlegt. Wissenschaftler beschäftigen sich auch mit der Frage, weshalb männliche Hormone überhaupt die Vorliebe für Spielzeugautos und Bälle fördern. Die vermutete Erklärung ist, dass diese Spielzeuge Beweglichkeit und räumliches Denken fördern. Jungen zeichnen sich im Schnitt durch höhere Fähigkeiten in mentaler Rotation und räumlicher Navigation aus, was evolutionär mit Aufgaben wie Jagen und Orientierung in Gelände zusammenhängen könnte.
Das spielerische Manipulieren von Fahrzeugen oder Bällen könnte diese Fähigkeiten frühzeitig fördern, weshalb auch das Interesse daran genetisch und hormonell vorprogrammiert sein könnte. Die Ergebnisse aus 2009 widerlegen außerdem den oft angenommenen Zusammenhang zwischen bewegungsfreudigem Verhalten und Spielzeugpräferenz. Studien zeigten, dass schon Säuglinge, deren körperliche Bewegungen stark eingeschränkt sind, klare Präferenzen bei der visuellen Aufmerksamkeit für Spielzeuge zeigten, ehe sie überhaupt aktiv spielen konnten. Dies legt nahe, dass es zum Beispiel nicht allein der Wunsch nach Bewegung ist, der Jungen zu Spielzeugautos zieht. Gleichzeitig ist auch die weibliche Vorliebe für Puppen erklärbar.
Mädchen scheinen evolutionär bedingt eine stärkere Aufmerksamkeit für soziale Stimuli zu entwickeln. Puppen als menschliche Abbilder bieten soziale Interaktionsmöglichkeiten sowie Gelegenheit fürs Spielen von Pflege- und Rollenszenarien, die zur Entwicklung sozialer Kompetenz beitragen. Diese früh kindliche Wahrnehmung sozialer Zusammenhänge und Beziehungen wird durch prä- und postnatale biologische Faktoren begünstigt. Kurz zusammengefasst unterstützen zahlreiche Studien die These, dass die frühkindlichen Spielzeugpräferenzen nicht nur gesellschaftlich geprägt sind, sondern tief in unseren biologischen und hormonellen Anlagen verankert sind. Die Forschung zeigt eindrücklich, dass die pränatale Hormonumgebung starken Einfluss auf das Verhalten und die Vorlieben der Kinder nimmt, lange bevor Eltern oder Umgebung eingreifen können.
Diese Erkenntnisse haben weitreichende Bedeutung sowohl für die Erziehung als auch für die pädagogische Praxis, da sie sensibilisieren für die verschiedenen Bedürfnisse und Interessen von Jungen und Mädchen. Das Verständnis der biologischen Grundlagen sollte jedoch nicht als starr und deterministisch gesehen werden, sondern als ein Gedanke, der individuelle Unterschiede anerkennt und den Rahmen für die Förderung von Kindern erweitert. Abschließend bleibt die Frage, warum evolutionär überhaupt eine solche Differenzierung in den Spielzeugpräferenzen entstand. Die Antwort liegt vermutlich in der unterschiedlichen funktionalen Rollenverteilung unserer Vorfahren. Männer waren traditionell als Jäger und Erkunder tätig, was starke räumliche und motorische Fähigkeiten erforderte, während Frauen eher in sozialen und pflegenden Rollen eingebunden waren.
Spielzeug wurde in diesem Sinne zur Übung und Unterstützung der jeweiligen Fertigkeiten und Neigungen angelegt, was sich über Millionen von Jahren genetisch und hormonell ausprägte. Moderne Gesellschaften sollten diese naturgegebenen Unterschiede nicht als Einschränkung verstehen, sondern als Möglichkeit, Kinder individuell zu begleiten und zu fördern. Die Wahl der Spielzeuge kann als Ausdruck biologischer Präferenzen gesehen werden, die den Weg für eine gesunde Entwicklung und Identität ebnen. Gleichzeitiges Bewusstsein für mögliche kulturelle und soziale Konstrukte sorgt dafür, dass sich Kinder frei und vielfältig entfalten können. Insgesamt liefern die Erkenntnisse aus der Forschung zur Verbindung von Hormonen, Gehirnfunktion und Verhalten wertvolle Einsichten, die weit über das Thema Spielzeugpräferenzen hinausgehen und grundlegende Fragen der Geschlechterentwicklung auf praktische Weise beleuchten.
Die Natur zeigt sich dabei als starker Mitgestalter der frühen Kindheit, der eng mit Kultur und Erziehung verzahnt ist – und genau darin das Potenzial für eine vielfältige menschliche Entwicklung liegt.