Arthropoden bilden mit mehr als einer Million beschriebener Arten die artenreichste Tiergruppe der Erde. Zu dieser vielfältigen Gruppe gehören Insekten, Spinnen, Krebstiere und Tausendfüßer, die sich durch ihre segmentierten Körper auszeichnen, welche in sogenannte Tagmata unterteilt sind. Trotz der enormen Vielfalt teilen alle Arthropoden komplexe Entwicklungsmechanismen, die ihre einzigartige Körperorganisation maßgeblich prägen. Forscher an der Hebräischen Universität Jerusalem unter der Leitung von Prof. Ariel Chipman haben nun eine neue Modellvorstellung zur Evolution der Arthropodenkörper entwickelt, die fossile Aufzeichnungen mit modernen embryonalen Entwicklungsdaten verknüpft und zu einem tieferen Verständnis der Evolution dieser Tiere führt.
Die charakteristische Aufteilung des Arthropodenkörpers in erkennbare Einheiten – wie beim Insekt in Kopf, Thorax und Abdomen oder bei Spinnen in Cephalothorax und Abdomen – hat Wissenschaftler lange Zeit vor Rätsel gestellt. Die Frage, wie sich diese unterschiedlichen Tagmata evolutionär entwickelt haben, blieb bislang unbeantwortet. Das neue Modell von Prof. Chipman bietet hier nun eine innovative Erklärung, die auf der Analyse drei unterschiedlicher Entwicklungszonen in der Embryogenese beruht. Diese Zonen repräsentieren unterschiedliche Ursprünge der Tagmata bei Arthropoden und sind zwingend notwendig, um den komplexen Aufbau des Körpers während der Entwicklung zu verstehen.
Erstens wird eine einzigartige vordere Segmentreihe identifiziert, die als Ursprung des Kopfbereichs fungiert. Diese anterioren Segmente entstehen unabhängig von den übrigen Körpersegmenten und bestimmen maßgeblich die Kopfform und Funktion. Zweitens existiert ein mittlerer Bereich, der innerhalb eines vorbestehenden Entwicklungsfeldes entsteht und die mittleren Körperabschnitte formt, zum Beispiel beim Insekt den Thorax. Dieser Bereich wird von spezialisierten genetischen und molekularen Mechanismen reguliert und zeigt in seiner Evolution eine bemerkenswerte Flexibilität. Drittens wird der hintere Körperabschnitt entlang einer sequenziellen Wachstumzone gebildet, welche die hinteren Segmente Schritt für Schritt generiert.
Dieses Prinzip der sequentiellen Segmentierung wird vor allem bei krebsartigen Arthropoden beobachtet und unterscheidet sich deutlich von den früher als kurz- oder langkeimig klassifizierten Entwicklungstypen. Dieses neu vorgestellte Konzept löst die bisherigen Einteilungen auf und zeigt, dass die traditionelle Unterscheidung von kurz- und langkeimiger Entwicklung zu einfach gefasst war. Stattdessen werden unterschiedliche embryonale Mechanismen zur Bildung der Tagmata unterschieden und untersucht. Besonders spannend ist die Rolle der Hox-Gene, die schon lange als Schlüsselregulatoren der Segment- und Tagmabildung gelten. Prof.
Chipmans Studie legt nahe, dass die Wirkung dieser Gene kontextspezifisch interpretiert werden muss, denn sie wirken nicht isoliert für einzelne Körpersegmente, sondern interagieren subtil mit den verschiedenen Entwicklungszonen und ihren jeweiligen molekularen Signalwegen. Dies öffnet neue Forschungsfelder, um die molekularen Treiber und genetischen Netzwerke der Tagmabildung differenzierter zu verstehen. Die Kombination von Erkenntnissen der vergleichenden Entwicklungsbiologie mit der Analyse fossiler Überreste ermöglicht es, evolutionäre Abläufe über Jahrmillionen nachzuvollziehen. Fossilien von bis zu 520 Millionen Jahren alter Arthropoden zeigen frühe Körperformen und segmentale Muster, die jetzt in das neue Entwicklungsmodell eingeordnet werden können. Dadurch wird nachvollziehbar, wie sich komplexe Körperpläne durch Variationen in embryonalen Entwicklungsprozessen herausgebildet und diversifiziert haben.
Gerade diese Verbindung zwischen der männlichen Paläontologie und der weiblichen Entwicklungsbiologie meint eine besonders fruchtbare Synergie, die das Verständnis von Evolutionsmechanismen deutlich voranbringt. Die Vielfalt der Körperpläne der heute lebenden Arthropoden wird somit als Ergebnis von Modifikationen der Aktivität der drei embryonalen Entwicklungszonen verstanden. Die Entstehung neuer Tagmata oder die Modifikation bestehender Körperabschnitte sind demnach keine isolierten Ereignisse, sondern folgen einem systematischen evolutionären Muster, das genetisch und molekular verankert ist. Dieses Muster lässt sich in Fossilien nachvollziehen und durch moderne molekulare Forschung an heutigen Arten weiter aufschlüsseln. Darüber hinaus unterstreicht die Studie, wie wichtig eine integrative Herangehensweise für die Evolutionstheorie ist.
Nur durch die Verbindung von Daten aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, etwa der Genetik, Molekularbiologie, Embryologie und Paläontologie, lässt sich ein schlüssiges Gesamtbild der Arthropodenevolution zeichnen. Prof. Chipman hebt hervor, dass diese interdisziplinäre Arbeit den Weg zu neuen Fragestellungen ebnet, beispielsweise wie Umweltfaktoren und genetische Veränderungen zusammen die Entwicklung von Tagmata beeinflussen. Für die Wissenschaft hat diese Erkenntnis eine besondere Bedeutung, denn Arthropoden stellen nicht nur einen großen Teil der Biodiversität, sondern auch wichtige Umweltindikatoren dar. Das Verständnis der evolutionären Mechanismen hinter ihrer Körpersegmentierung hilft, ihre Anpassungsfähigkeit und Evolutionsgeschichte besser zu verstehen und auch die Auswirkungen von Umweltveränderungen auf diese Tiergruppe einzuschätzen.
Insgesamt ist die neue Modellvorstellung von Prof. Ariel Chipman ein Meilenstein für die Evolutionsbiologie der Arthropoden. Sie erleichtert nicht nur das Verständnis der komplexen Körperorganisation dieser Tiere, sondern zeigt auch, wie tief verwurzelt evolutionäre Entwicklungsprozesse in den fundamentalen genetischen Steuerungssystemen sind. Diese Verbindung von Embryologie und Paläontologie öffnet spannende Perspektiven für zukünftige Forschungen, um den evolutionären Ursprung und die Diversifizierung der erfolgreichsten Tiergruppe der Welt fundiert zu erforschen. Langfristig versprechen die Erkenntnisse weitere Fortschritte im Bereich der evo-devo-Forschung, die das Verständnis der Entstehung komplexer Lebensformen vertiefen und neue Wege für die Biotechnologie und angewandte Wissenschaften eröffnen könnten.
Die Weiterentwicklung dieser Forschung wird ebenso dazu beitragen, die evolutionären Zusammenhänge im Tierreich insgesamt transparenter zu machen und wichtige Mechanismen zu beleuchten, die das Leben auf der Erde geformt haben.