In den letzten Jahren dominierte die Arbeitswelt das Phänomen der "Großen Kündigungswelle" (Great Resignation), bei dem viele Beschäftigte ihren Job verließen, um bessere Gehalts- und Karrierechancen zu suchen. Dieses Verhalten schien lange Zeit lukrativ, da Jobwechsler häufig mit höheren Gehaltszuwächsen belohnt wurden. Doch jüngste Analysen zeigen eine längst nicht mehr selbstverständliche Entwicklung: Das Verweilen im bestehenden Job – der sogenannte "Big Stay" – zahlt sich mittlerweile mehr aus als der Wechsel. Dieser Wandel stellt Arbeitnehmer und Arbeitgeber vor neue Herausforderungen und Chancen. Wichtigster Treiber dieses Trends ist die veränderte Einstellung der Unternehmen am Arbeitsmarkt.
Viele Firmen sind heute vorsichtiger beim Einstellen neuer Mitarbeiter. Angesichts wirtschaftlicher Unsicherheiten und einer insgesamt zurückhaltenderen Einstellung zu Neueinstellungen setzen Arbeitgeber verstärkt darauf, bestehende Belegschaften zu halten, anstatt durch Neueinstellungen hohe Gehaltssprünge hinzunehmen. Speziell in weißen Kragenberufen verzeichnet man einen Rückgang der Fluktuation, wobei die durchschnittlichen Lohnzuwächse für Angestellte im Bestand die von Jobwechslern aktuell übertreffen. Branchen mit einer großen Anzahl an weißen Kragenpositionen profitieren besonders stark vom "Big Stay". Informationsbranche, Management, juristische Dienstleistungen oder IT-Unternehmen verzeichnen eine robuste Gehaltsentwicklung.
So kletterten die durchschnittlichen Stundenlöhne beispielsweise im Informationssektor im Lauf eines Jahres um rund sechs Prozent. In Berufen mit Unternehmensberatung, Management und Technologie steigt die Vergütung im Schnitt um etwa fünf Prozent. Dieses Gehaltswachstum basiert auf der Kombination aus niedrigen Entlassungsraten und der Bereitschaft, bestehende Mitarbeiter zu halten und zu fördern. Für Arbeitnehmer, die während der Großen Kündigungswelle den Job gewechselt haben und seitdem ihre Position beibehalten, bedeutet das eine doppelte Rendite: Zum einen profitierten sie beim Wechsel von einem höheren Einstiegshonorar, zum anderen genießen sie aktuell stabile Gehaltszuwächse durch das "Big Stay". Diese Gruppe gilt inzwischen als neue “obere Mittelschicht” innerhalb der weißen Kragenarbeiter.
Demgegenüber stehen jene, die derzeit einen Jobwechsel anstreben, aber auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen. Der Einstellungsprozess ist langsamer, und Unternehmen sind nicht bereit, wie in der Vergangenheit großzügige Gehaltserhöhungen anzubieten. Für Jobsuchende ist die Lage besonders herausfordernd, da es fast keine Beschäftigungswelle wie in früheren Jahren gibt. Vor diesem Hintergrund wird ein Jobwechsel riskanter: Viele müssen in Kauf nehmen, dass sie bei einem Wechsel geringere Bezahlung oder niedrigere Positionen akzeptieren müssen. Eine auffällige Entwicklung ist, dass viele Kandidaten ihre Gehaltsforderungen schon deutlich nach unten korrigiert haben.
Untersuchungen zeigen, dass der durchschnittlich akzeptierte Mindestlohn für einen neuen Job in kurzer Zeit um mehrere tausend Euro gesunken ist. Angestellte mit Hochschulabschluss sind besonders betroffen und landen zunehmend in Positionen, die formal keine akademische Qualifikation erfordern. Die damit verbundene Überqualifizierung führt zu Frustration und kann langfristig die Karriereentwicklung erschweren. Doch auch wenn der Arbeitsmarkt für Stellenwechsler momentan restriktiv ist, müssen Arbeitnehmer, die mit einem Wechsel liebäugeln, diesen nicht komplett ausschließen. Ökonomen empfehlen, das Angebot genau zu prüfen.
Wenn eine neue Position eine klare Karriereverbesserung und eine angemessene Gehaltserhöhung verspricht, kann sich der Wechsel trotzdem lohnen. Andernfalls bietet der Verbleib im aktuellen Job mit guten Lohnsteigerungen eine solide Option – insbesondere in Zeiten, in denen Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Unsicherheiten drohen. Eine vertiefte Erklärung für diesen Wechsel in der Arbeitsmarktstruktur liegt auch in der demographischen Entwicklung und den technischen Fortschritten. Ältere, erfahrene Arbeitnehmer profitieren von stabileren Arbeitsverhältnissen. Sie genießen häufig ein höheres Gehalt und sind weniger geneigt, den Arbeitsplatz zu wechseln, was die Lohnentwicklung weiter unterstützt.
Umgekehrt erschwert die große Anzahl an gut ausgebildeten Nachwuchskräften den Zugang zu attraktiven Stellen erheblich. Zudem wirkt der technologische Fortschritt, insbesondere der Einsatz von Künstlicher Intelligenz, teilweise als dämpfender Faktor bei der Nachfrage nach bestimmten weißen Kragen Jobs. Aus unternehmerischer Sicht zeigt sich, dass die Personalpolitik zunehmend auf Stabilität setzt. Geringere Fluktuation ermöglicht Firmen, Fachwissen zu bewahren und die Produktivität zu steigern. Außerdem reduziert die Bereitschaft der Mitarbeiter zur längeren Verweildauer die Kosten für Recruiting und Einarbeitung neuer Angestellter.
Unternehmen, die gezielt Weiterbildungsmaßnahmen und Gehaltsanpassungen anbieten, sichern sich so wertvolle Mitarbeiter und bleiben wettbewerbsfähig. Für Arbeitnehmer bedeutet diese Entwicklung, dass es wichtiger denn je ist, strategisch zu denken und nicht nur kurzfristigen Trends hinterherzueilen. Der Druck, bei jeder passenden Gelegenheit den Job zu wechseln, um mehr Geld zu verdienen, hat deutlich nachgelassen. Vielmehr gewinnen Faktoren wie Arbeitsplatzsicherheit, Weiterentwicklungsmöglichkeiten und ein gutes Betriebsklima an Bedeutung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der "Big Stay" ein Signal für eine neue Phase im Arbeitsmarkt ist.
Der früher als sicherer Weg angesehene häufige Jobwechsel bringt heute nicht zwangsläufig mehr Gehalt. Stattdessen kann das Verweilen im Job bei guter Performance und unter angemessenen Bedingungen zu besseren Einkommens- und Karriereaussichten führen. Im besten Fall profitieren Arbeitnehmer von einer stabilen Einkommensentwicklung, ohne das Risiko längerer Arbeitslosigkeit oder Gehaltseinbußen tragen zu müssen. Besonders in unsicheren wirtschaftlichen Zeiten lohnt es sich für Berufstätige, ihre Entscheidungen, insbesondere in Bezug auf Jobwechsel, wohlüberlegt zu treffen. Wer sich kreativ auf dem internen Arbeitsmarkt bewegt, Weiterbildungs- und Veränderungsmöglichkeiten nutzt und dabei geduldig bleibt, kann langfristig profitieren.
Für Unternehmen bietet die Orientierung auf Mitarbeitertreue und nachhaltige Personalentwicklung einen Weg, sowohl Stabilität als auch Innovation zu sichern. Abschließend bleibt festzuhalten, dass Arbeitnehmer aktuell gut beraten sind, die Versuchung des stetigen Jobwechsels kritisch zu hinterfragen. Denn entgegen vieler Erwartungen bringt das Bleiben am Arbeitsplatz heute oft mehr finanzielle Vorteile und berufliche Sicherheit. Der Trend "Big Stay" könnte den Arbeitsmarkt nachhaltig prägen und ein Umdenken hinsichtlich Karriereplanung und Wertschätzung von Kontinuität in Gang setzen.