Myanmar, ein Land reich an kulturellem Erbe und jahrhundertealten Traditionen, sieht sich derzeit mit einer existenziellen Bedrohung für einen seiner wertvollsten Schätze konfrontiert – Chinlone, das traditionelle Ballspiel, das tief im Herzen der Bevölkerung verwurzelt ist. Das Spiel, das sowohl Kunst als auch Sport in sich vereint, hat nicht nur eine lange Geschichte, die Jahrhunderte zurückreicht, sondern symbolisiert auch die kulturelle Identität Myanmars. Doch seit einigen Jahren zeichnen sich düstere Wolken am Horizont ab. Die Auswirkungen anhaltender Konflikte im Land und der drastische Mangel an dem für die Spielbälle benötigten Rattan sind deutliche Warnzeichen einer möglichen Auslöschung dieser uralten Praxis.Chinlone ist mehr als nur ein Spiel.
Es ist eine Kunstform, die auf Geschicklichkeit, Geduld und Gemeinschaftssinn basiert. Alle Teilnehmer – Männer und Frauen – bringen ihre individuellen Fertigkeiten ein. Männer spielen in Gruppen und bilden dabei einen Kreis, in dem der Ball technisch versiert mit Füßen, Knien oder dem Kopf kunstvoll bewegt wird. Dieses tänzerische Passspiel wird von traditionellen Melodien begleitet und stellt eine Mischung aus sportlichem Wettbewerb und kulturellem Ritual dar. Frauen hingegen zeigen beeindruckende Soloaufführungen.
Ihr Spiel erinnert an Zirkuskunststücke, denn sie balancieren den Ball oft auf innovativen Hilfsmitteln wie Stühlen, die auf Flaschen stehen, oder jonglieren mit dem Ball, während sie einen Regenschirm drehen oder auf einem Hochseil laufen. Diese Darbietungen sind nicht nur eine Demonstration sportlicher Fähigkeiten, sondern auch Ausdruck kultureller Identität und Schönheit.Die Geschichte von Chinlone reicht laut archäologischen Funden bis in die Zeit des Pyu-Reiches, das vor über 1500 Jahren existierte. Eine Entdeckung einer silbernen Spielball-Replik in einer Pagode aus dieser Zeit beweist die tief verwurzelte Tradition. Ursprünglich war Chinlone eine Freizeitbeschäftigung, die zur körperlichen Ertüchtigung diente und häufig der Unterhaltung königlicher Höfe diente.
Mit der Unabhängigkeit Myanmars im Jahr 1953 wurde das Spiel institutionalisiert und ein offizielles Regelwerk eingeführt, um die nationale Kultur zu stärken und zu bewahren. Bis heute ist Chinlone ein identitätsstiftendes Element, das die Verbundenheit der Menschen mit ihrer Geschichte und ihren Wurzeln unterstreicht.Doch die letzten Jahre haben Chinlone vor massive Herausforderungen gestellt. Zum einen hat die COVID-19-Pandemie die Teilnahme an Sport und kulturellen Veranstaltungen stark eingeschränkt. Zum anderen und gravierender noch ist die politische Situation.
Der Militärputsch 2021 und der daraus resultierende Bürgerkrieg haben viele Regionen Myanmars destabilisiert und die Lebensgrundlage zahlreicher Gemeinschaften zerstört. Vor allem in der westlichen Region Rakhine, wo das beste Rattan für die Chinlone-Bälle geerntet wird, behindern heftige Gefechte das Sammeln des benötigten Materials. Die örtlichen Bauern und Arbeiter wagen sich aus Angst vor Kämpfen nicht mehr in die Wälder, in denen die Rattanranken wachsen. Dieses Tropenhartholz ist unverzichtbar für die Herstellung der Bälle, da es zugleich flexibel und robust ist und die spezifischen Anforderungen an die Ballqualität erfüllt. Ohne Rattan kann kein Chinlone-Ball gefertigt werden, was letztlich das gesamte Handwerk bedroht.
Die Herstellung der Chinlone-Bälle ist ein kunstvolles Handwerk. In kleinen Werkstätten, häufig unter einfachen Bedingungen, arbeiten die Handwerker mit großer Präzision. Das Rattan wird von Hand geschält, in feine Streifen geschnitten und dann zu einem Ball mit pentagonalen Öffnungen verflochten. Anschließend werden die Bälle in heißem Wasser gekocht, um sie besonders haltbar zu machen. Jeder Arbeitsschritt verlangt Erfahrung und Sorgfalt, vergleichbar mit der Bearbeitung von Schmuckstücken.
Für die Handwerksbetriebe ist die Herstellung der Bälle nicht nur Quelle des Einkommens, sondern auch ein Akt kultureller Bewahrung. Dennoch bringt jeder einzelne Ball dem Hersteller nur wenig Geld ein, was angesichts der steigenden Materialkosten und sinkenden Verkaufszahlen große finanzielle Belastungen bedeutet.Trotz aller Widrigkeiten bemühen sich die Spieler und Handwerker, Chinlone lebendig zu halten. Es gibt Spielrunden unter Autobahnbrücken, an Straßenlaternen, die oft wegen der Stromausfälle der Kriegszeit gedimmt sind, und auf eigens eingerichteten Sonderspielflächen. Der Geist des Spiels und die Leidenschaft seiner Anhänger sind nach wie vor stark.
Organisationen und einzelne Enthusiasten versuchen, das Interesse wieder zu entfachen und jenen Menschen eine Stimme zu geben, für die Chinlone nicht nur Sport, sondern ein Symbol ihrer kulturellen Identität ist. Sie warnen jedoch auch eindringlich davor, dass ohne handfeste Unterstützung und friedliche Verhältnisse die Tradition zu verschwinden droht.Die Herausforderungen, denen Chinlone gegenübersteht, sind auch ein Spiegelbild der komplexen Situation Myanmars. Die anhaltenden Konflikte zerstören nicht nur politische und gesellschaftliche Strukturen, sondern haben unmittelbare Auswirkungen auf das kulturelle Leben im Land. Viele Traditionen, die über Jahrhunderte gewachsen sind, stehen auf dem Spiel.
Das Schicksal von Chinlone kann als Indikator für die Zukunft des kulturellen Erbes betrachtet werden. Gelingt es nicht, die Sicherheit der Regionen zu gewährleisten und die Umweltressourcen wie Rattan nachhaltig zu sichern, wird diese einzigartige Kunst des Ballsports für folgende Generationen unerreichbar bleiben.Darüber hinaus kann Chinlone auch als Brücke zwischen den verschiedenen Volksgruppen und Regionen Myanmars dienen. Sport und Kultur haben das Potenzial, Menschen zu verbinden, Konflikte zu mildern und ein gemeinsames Identitätsgefühl zu schaffen. Internationale Aufmerksamkeit und Unterstützung könnten dabei helfen, die Tradition zu schützen und eine breitere Öffentlichkeit für die Bedeutung dieses Spiels zu sensibilisieren.
Es gilt, lokale Handwerker durch finanzielle und logistische Hilfe zu unterstützen, nachhaltige Rattan-Anbauprojekte zu fördern und für den Erhalt friedlicher Verhältnisse einzutreten.Verglichen mit ähnlichen Ballspielen in anderen südostasiatischen Ländern wie Sepak Takraw in Thailand, Malaysia und Indonesien, Kataw in Laos oder Sipa auf den Philippinen, steht Myanmar vor besonderen Herausforderungen. Während diese Länder in Teilen staatliche Förderung und größere Stabilität für ihre Sportarten gewährleisten können, so ist die Szene bei Chinlone durch die anhaltende politische Instabilität und die damit verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten massiv beeinträchtigt. Darüber hinaus ist Chinlone eine sehr spezifische Kunstform mit einer Geschichte, die untrennbar mit der Identität Myanmars verbunden ist. Ein Verlust dieses Kulturguts wäre deshalb ein kultureller Einschnitt von nationaler Tragweite.