Roberto Calvi, eine der rätselhaftesten Figuren der italienischen Finanzwelt, bleibt Gegenstand zahlreicher Theorien und Spekulationen. In den frühen 1980er Jahren war der ehemalige Vorsitzende der Banco Ambrosiano in einen der größten Finanzskandale verwickelt, die Italien und sogar die Welt erschütterten. Bekannt als „Gottes Banker“ aufgrund seiner engen Beziehungen zum Vatikan, geriet Calvi mit dem Verschwinden von enormen Geldsummen und undurchsichtigen Verbindungen zu mächtigen Organisationen wie der Mafia und geheimnisvollen Freimaurerlogen in einen Strudel aus Betrug und möglicher Kriminalität. Sein plötzliches und mysteriöses Ableben unter der Londoner Blackfriars Bridge im Juni 1982 hinterließ eine Welle von ungelösten Fragen und Enthüllungen, die bis heute niemand vollständig beantworten konnte. Roberto Calvi hatte die Banco Ambrosiano, Italiens damals größte Privatbank, zu einer Macht in internationalen Finanzkreisen ausgebaut.
Dabei war die Beziehung zum Vatikan, beziehungsweise dem dort ansässigen Institut für die religiösen Werke (IOR), von entscheidender Bedeutung. Das IOR kontrollierte beträchtliche finanzielle Mittel der katholischen Kirche und war Hauptaktionär der Banco Ambrosiano. Allerdings war das Umfeld der Bank geprägt von Intransparenz, da der Vatikan auf Grund seines Sonderstatus als souveräner Staat nicht den gleichen Kontrollen unterlag wie italienische Finanzinstitutionen. Die Verstrickung von Calvi reichte weit darüber hinaus. Seine Bande schlossen die berüchtigte Mafia mit ein, die in jene Zeit stark in das internationale Geldwäschegeschäft verwickelt war.
Darüber hinaus hatte Calvi Verbindungen zu einer geheimnisvollen Freimaurerloge namens Propaganda Due (P2), die als Schattenorganisation galt und zahlreiche einflussreiche Mitglieder aus Politik, Wirtschaft und Militär Italiens zählte. Unter der Führung des umstrittenen Millionärs Licio Gelli wurde P2 zu einem Symbol für korruptes Machtspiel und heimliche Machtausübung hinter den Kulissen. Der Zusammenhang zwischen Calvi, der Mafia und P2 brachte Italien in die politische Krise. P2-Mitgliedschaften enthüllten geheime Netzwerke, die dem Rechtssystem und der Demokratie zuwiderliefen und den Einfluss krimineller und faschistischer Strömungen in den 1980er Jahren verstärkten. Calvis Rolle in diesem Geflecht war dabei zentral.
Er wurde beschuldigt, enorme Summen – unter anderem etwa 1,5 Milliarden US-Dollar – durch Offshore-Gesellschaften gewaschen zu haben, die oft auf den Vatikan zurückzuführen waren. Diese Gelder sollten sowohl politische Zwecke als auch mafiöse Aktivitäten finanzieren. Der Bankier stand unter massivem Druck. 1981 wurde er wegen Währungsdelikten verurteilt, befand sich jedoch bis zum Ausgang des Berufungsverfahrens auf freiem Fuß. In dieser Zeit plante er seine Flucht aus Italien.
Mit gefälschtem Reisepass, Bargeld in mehreren Währungen und einem geheim angemieteten Apartment in London machte sich Calvi auf den Weg, vermutlich um Beweise und Dokumente in Sicherheit zu bringen, die andere Mächtige belasteten. Doch kurz nachdem er in London ankam, wurde sein Leichnam unter erschütternden Umständen gefunden – aufgehängt unter der Blackfriars Bridge, die von Mitgliedern der P2 auch als „schwarzer Franziskaner“ bezeichnet wurde, ein Symbol, das viele als Botschaft deuteten. Die Tatsache, dass in Calvis Taschen Ziegelsteine gefunden wurden, sein Körper aber Verletzungen aufwies, die nicht zu einem Selbstmord passten, ließ Ärzte und Ermittler an der offiziellen Version zweifeln. Zudem war seine Mitarbeiterin Teresa Corrocher kurz zuvor aus dem Fenster der Banco Ambrosiano gestürzt, ein weiterer tragischer Todesfall, der Verstrickungen und einen systematischen Vertuschungsversuch vermuten ließ. Der erste Ermittlungserfolg in Großbritannien wies auf Selbstmord hin, doch die Italiener öffneten die Untersuchungen neu, als die Familie Calvis mit weiteren Experten Beweise vorlegte, die Mord nahelegten.
Die Gerichtsprozesse und Untersuchungen, die sich über Jahrzehnte hinzogen, offenbarten ein düsteres Bild: Ein Geflecht aus mafiösen Auftragsmorden, politischen Intrigen und geheimen Logen. Der amerikanische Erzbischof Paul Marcinkus, damaliger Leiter des Vatikanbank-Instituts, war ebenso eine Schlüsselfigur wie Michele Sindona, ein bekanntes „Mafia-Bankwesen“-Gesicht, der ebenfalls auf mysteriöse Weise ums Leben kam. Beide hatten enge Verbindungen zu Calvi. Die Großmacht des Vatikan Hauptstadt expandierte so stillschweigend in eine Welt voller skandalöser Finanzmanipulationen, die Italien tief erschütterten. Obwohl im Jahr 2005 fünf Personen vor Gericht standen, darunter auch bekannte Mafiosi und ein Bodyguard Calvis, endeten alle Prozesse in Freisprüchen, was die Unsicherheit über die wahren Hintergründe des Mordes nur verstärkte.
War Calvi eine Marionette im Machtspiel zwischen der Mafia und geheimen Vatikan-Operationen? Oder handelte es sich um eine Art Botschaft der P2-Freimaurer? Bis heute bleibt die Motivation seines Todes und die mächtigen Interessen, die sich dahinter verbargen, unklar. Die Auswirkungen des Falls Calvi sind vielschichtig. Er verdeutlicht, wie untrennbar die Bereiche Kirche, Geschäft, Politik und Unterwelt in Italien waren – und vielleicht noch sind. Die Rolle des Vatikan als eigenständiger Geldfluss ohne staatliche Kontrollen macht ihn zu einem Brennpunkt für Finanzskandale und eine Schattenwelt abseits der Öffentlichkeit. Calvis Tod markiert den Punkt, an dem diese Schattenwelt für alle sichtbar wurde.
Die Verbindungen zu Propaganda Due, der P2-Loge, reflektieren auch eine dunkle Seite der Freimaurerei, die vielfach als Verschwörungstheorie angesehen wird, aber in diesem Kontext gravierende Beweise für illegale und korrupte Praktiken offenbarte. Die Mitgliederliste von P2 umfasste hochrangige Persönlichkeiten, deren Vertrauen in Rechtsstaat und Demokratie schädigte und zum Zusammenbruch der italienischen Regierung führte. Roberto Calvi verkörpert die Komplexität der italienischen Nachkriegsgeschichte, in der Macht, Geld und Verbrechen oft eine unheilvolle Allianz eingingen. Sein Leben, voller düsterer Geheimnisse und tragischer Wendungen, ist nicht nur eine Geschichte über einen Bankier, sondern ein Spiegelbild der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen Italiens. Der ungelöste Mord wirft ein Licht auf die Verwobenheit mächtiger Institutionen und die Anfälligkeit der Finanzwelt für kriminelle Machenschaften.
Selbst Jahrzehnte nach seinem Tod bleibt Calvis Fall ein Sinnbild für das rätselhafte Zusammenspiel zwischen Mafia, Freimaurerei und dem Vatikan. Es erinnert daran, wie wichtig Transparenz und Kontrolle in Finanzinstitutionen sind und wie gefährlich es sein kann, wenn Macht unkontrolliert hinter Schleiern operiert. Roberto Calvi wird häufig als Mahnmal für die Schattenseiten jener Verbindungen gedacht, die die öffentlichen Institutionen tief durchdringen, und sein Tod ruft weiter zum Nachdenken über Wahrheit, Gerechtigkeit und Macht auf. Die Geschichte von „Gottes Banker“ bleibt eine der faszinierendsten und düstersten Episoden der modernen europäischen Geschichte.