Die moderne Medizin und Genetik stehen vor der großen Herausforderung, nicht nur genetische Variationen beim Menschen zu identifizieren, sondern deren funktionelle Auswirkungen auch schnell und verlässlich zu verstehen. Genomweite Sequenzierungsmethoden ermöglichen es heute, tausende genetische Varianten in kürzester Zeit zu erfassen. Dennoch rennt die Forschungswelt immer noch der entscheidenden Frage hinterher: Welche dieser Variationen sind tatsächlich krankheitsauslösend und welche sind harmlos? Eine kürzlich entwickelte Methode bringt frischen Wind in dieses komplexe Forschungsgebiet, indem sie lebende Bakterien nutzt, um menschliche Enzyme in einem funktionellen Kontext zu testen. Diese neuartige „Live Bacteria Enzyme Assay“ ermöglicht eine effektive Untersuchung der Enzymaktivität und die Erkennung von krankheitsrelevanten Mutationen in menschlichen Genen. Besonders bemerkenswert ist dabei der Einsatz eines humanisierten Escherichia coli (E.
coli) Bakterienstammes, der die Funktionen menschlicher Enzyme übernehmen kann und so als lebendes Biosystem zur Analyse dient. Diese Methode bietet eine vielversprechende Alternative zu traditionellen In-vitro-Experimenten und Zellkulturmodellen, die häufig komplex, aufwendig und teuer sind sowie Einschränkungen bezüglich Probenverfügbarkeit mit sich bringen. E. coli als Versuchsträger menschlicher Enzyme erscheint auf den ersten Blick ungewöhnlich, besonders angesichts der evolutionären Distanz zwischen Bakterien und Menschen. Doch Metabolismusprozesse wie die Glykolyse sind bei beiden erstaunlich ähnlich.
Beide Organismen nutzen dieselben chemischen Reaktionen zur Glukoseverwertung, lediglich ausgeführt von unterschiedlichen, jedoch funktional vergleichbaren Enzymen. Dieses grundlegende metabolische Framework bildet die Basis dafür, dass Schlüssel-Enzyme des menschlichen Stoffwechsels in E. coli funktionell ersetzt und getestet werden können. Befindet sich die Bakterienkultur in einem Medium, das auf diese menschlichen Enzyme angewiesen ist, dann spiegelt ihr Wachstum die enzymatische Aktivität wider und kann so als lebendiger Assay dienen. Im Fokus der Forschung standen insbesondere zwei humanrelevante Enzyme: Glukose-6-phosphat-Isomerase (GPI) und Glukose-6-phosphat-Dehydrogenase (G6PD).
Beide sind essenziell für die Energiegewinnung und Zellfunktion, wobei Defekte in diesen Enzymen häufig zu erblichen Enzymopathien wie hämolytischer Anämie führen. Für GPI und G6PD wurden in einer Reihe von Experimenten die bakteriellen Gene gezielt ausgeschaltet und stattdessen die entsprechenden menschlichen Gene in die Bakterien eingefügt. Dabei konnten unterschiedliche Varianten beziehungsweise Mutationen der Enzyme untersucht werden. Die Beobachtung zeigte, dass das Wachstum der modifizierten Bakterien signifikant von der Aktivität der menschlichen Enzyme abhängt. Krankheitsauslösende Mutationen führten zu verlangsamtem oder komplett ausbleibendem Wachstum, während harmlose Varianten kaum Veränderungen zeigten.
Ein zentraler Vorteil dieses Ansatzes ist die Fähigkeit, in einem lebenden Organismus zu messen. Herkömmliche in vitro Verfahren schränken sich oft dadurch ein, dass sie Enzyme in isolierter Form oder aus Blutproben untersuchen müssen, was arbeitsintensiv und abhängig von biochemischer Aufreinigung ist. Außerdem fehlen dort die physiologischen Bedingungen, weshalb solche Tests die tatsächlichen Aktivitäten nur eingeschränkt abbilden können. Die E. coli Assay-Plattform hingegen integriert die menschlichen Enzyme in eine natürliche Zellumgebung, in der die üblichen Substrate, Cofaktoren und die zelluläre Umgebung bereitgestellt werden.
Dadurch entsteht ein möglichst realitätsnahes Bild der Enzymfunktion. Darüber hinaus zeigt die Methode großes Potenzial für die Wirkstoffforschung. Das Screening von kleinen Molekülen, die Enzymaktivitäten modulieren, ist ein zentraler Bestandteil moderner Arzneimittelentwicklung. Die menschisierten Bakterien können direkt mit potenziellen Medikamenten in Kontakt gebracht werden, wodurch das Wachstum als Indikator für die Wirkung der Substanzen genutzt wird. Beispielsweise konnte gezeigt werden, dass ein bekannter Aktivator der enzymdefizienten G6PD-Variante „Canton“ das Wachstum der Bakterien signifikant fördert.
Gleichzeitig konnten verschiedene Hemmstoffe, darunter bereits bekannte und neue Kandidaten, in dieser Plattform identifiziert und hinsichtlich ihrer Wirksamkeit bewertet werden. Ein weiterer bemerkenswerter Fortschritt ist die Erweiterung des Systems auf andere Enzyme. So wurde etwa das menschliche Enzym Argininosuccinatlyase (ASL), das in der Harnstoffzyklus-Reaktion eine wichtige Rolle spielt, erfolgreich in E. coli eingebracht. Dabei konnte das Bakterienwachstum in einem Medium ohne Arginin als Maß für die Aktivität dieses spezifischen Enzyms genutzt werden.
Dies untermauert die Flexibilität des Systems und sein Potenzial, eine breite Palette von Stoffwechselenzymen aus verschiedenen biochemischen Pfaden untersuchen zu können. Die Performance der Methode wurde durch die hohe Korrelation zwischen Wachstumsmessungen der humanisierten Bakterien und den Enzymaktivitäten aus klassischen biochemischen Assays belegt. Zudem überzeugt die Plattform durch ihre Geschwindigkeit, den vergleichsweise geringen Kostenaufwand und die hohe Durchsatzrate, was sie insbesondere für großangelegte genetische Studien und Medikamentenscreenings attraktiv macht. Die Möglichkeit, genetische Varianten auch solchen Mutationen zuzuordnen, die in der menschlichen Population selten oder kaum erforscht sind, bietet in der personalisierten Medizin entscheidende Mehrwerte. Natürlich bringt das System auch einige Herausforderungen mit sich.
So können Unterschiede in Membranpermeabilität und Transportmechanismen der Bakterienzelle das Ansprechen auf bestimmte Wirkstoffe im Vergleich zu menschlichen Zellen beeinflussen. Auch bakterielle Stoffwechselwege könnten Wechselwirkungen mit den humanen Enzymen hervorrufen, die im Menschen nicht vorliegen. Dennoch hat sich das System als äußerst robust erwiesen. Durch parallele Tests mit Bakterienstämmen mit bakteriellen Enzymen als Kontrollgruppe lassen sich unerwünschte Antibiotikaeffekte von echten Enzyminhibitoren effektiv herausfiltern. In der Zukunft könnte diese Technologie zu einem Standardinstrument für die Diagnose und Erforschung von Stoffwechselerkrankungen werden.
Die schnelle experimentelle Beurteilung sportlicher Mutationen erleichtert die Interpretation genetischer Daten aus Patienten und Familienstudien erheblich. Im klinischen Kontext könnte eine derartige Plattform auch für die Entwicklung von maßgeschneiderten Therapien genutzt werden, indem Wirkstoffe gezielt auf individuelle Enzymmutationen getestet werden. Neben der menschlichen Diagnostik und Pharmakologie eröffnet das Konzept weitere Möglichkeiten für biotechnologische Anwendungen. So könnte die Methode etwa auch zur gezielten Optimierung von Enzymen für industrielle Prozesse dienen, indem Screening und Evolutionsstudien in lebenden Bakterien durchgeführt werden. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Einführung humanisierter E.
coli Bakterienstämme als lebende Enzym-Assays eine bahnbrechende Innovation darstellt, die Genetik, Medizin und Pharmazeutik nachhaltig beeinflussen kann. Durch die Kombination der Stärken der Mikrobiologie mit molekularbiologischen und bioinformatischen Ansätzen wird ein leistungsfähiges Werkzeug geschaffen, welches die Grenzen etablierter Studienmethoden erweitert. Es zeigt exemplarisch, wie interdisziplinäre Forschung zur Entwicklung innovativer Lösungen führt, die klinische Diagnostik und Therapeutik effizienter, präziser und zugänglicher machen.