Kanada ist ein Land, das durch seine gewaltige Fläche, seine zerklüftete Landschaft und das raue Klima gekennzeichnet ist. Diese Faktoren beeinträchtigen nicht nur das tägliche Leben der Menschen, sondern prägen auch die Art und Weise, wie der Luftverkehr organisiert wird. Eine Besonderheit, die wenig bekannt, aber für Luftfahrtenthusiasten und Experten gleichermaßen faszinierend ist, besteht darin, dass Kanada weltweit die meisten alten Passagierjets im Einsatz hat – und das mit einem deutlichen Vorsprung vor allen anderen Ländern. Die meisten dieser historischen Flugzeuge sind Boeing 737-200, Maschinen, die zum Teil über 40 bis 50 Jahre im Dienst stehen. Während die Fluggesellschaften in Europa, den USA und anderswo ihre Flotten weitgehend modernisiert haben, fliegen diese robusten Oldtimer in Kanada noch immer regelmäßig Passagiere und Fracht zu abgelegenen Orten im hohen Norden.
Doch warum hält Kanada so lange an diesen älteren Modellen fest, die in anderen Teilen der Welt längst ausgemustert wurden? Ein maßgeblicher Grund für die Beliebtheit der Boeing 737-200 in Kanada liegt in der einmaligen geografischen und infrastrukturellen Situation. Das Land ist riesig, die Bevölkerung ist dünn gesät und viele Gemeinden befinden sich in besonders entlegenen Gebieten, vor allem im Norden, wo Straßenverbindungen oft fehlen oder völlig unzureichend sind. Diese Orte sind nur per Flugzeug erreichbar, und vielfach verfügen die dortigen Landebahnen nicht über eine befestigte Oberfläche. Statt Asphalt oder Beton – die in solchen extremen Klimazonen oft problematisch sind – sind es häufig noch Schotter- oder Graspisten. Die Boeing 737-200 ist das einzige Jetmodell, das offiziell für Starts und Landungen auf ungepflasterten Landebahnen zugelassen ist.
Dazu verfügt sie über eine sogenannte Gravel-Kit-Ausrüstung, eine spezielle technische Modifikation, die schützt unter anderem das Triebwerk vor Steinschlag und anderen Beschädigungen, die beim Rollen auf Schotterpisten auftreten können. Ein Deflektor an den Hauptfahrwerken und ein geblasenes Luftstromsystem vor den Triebwerkseinläufen verhindern, dass Steine und Schmutz die empfindlichen Turbinen beschädigen. Diese Technik ist einzigartig und erklärt, warum gerade diese Jets noch immer unverzichtbar sind. Betrachtet man die Zahlen, wird der außergewöhnliche Status Kanadas deutlich. Von den 30 ältesten Passagierjets weltweit, die noch im Linien- oder Charterverkehr eingesetzt werden, befinden sich sage und schreibe 13 in Kanada.
Das unterstreicht nicht nur die außergewöhnliche Historie, sondern auch die anhaltende Bedeutung dieser Flugzeuge für die Luftfahrt in diesem Land. An zweiter Stelle steht Venezuela mit sechs Jets, gefolgt von den USA mit nur drei Flugzeugen dieser Kategorie. Abgesehen von der Genehmigung für Schotterlandebahnen ist es auch die Robustheit und Wartungsfreundlichkeit der Boeing 737-200, die sie für Betreiber attraktiv macht. Während neuere Jets oft moderne, aber komplexe Technik enthalten, die Wartungsarbeiten erschweren und zu hohen Kosten führen kann, sind die älteren 200er in ihren Systemen vergleichsweise einfach aufgebaut. Ersatzteile sind zwar nicht mehr im regulären Markt erhältlich, können aber über spezialisierte Kanäle erschlossen werden.
Zudem sind sie oftmals kostengünstiger als jene für hochmoderne Maschinen. Allerdings bringt der Betrieb dieser alten Flugzeuge auch Herausforderungen mit sich. Sie verbrauchen mehr Treibstoff als neuere Modelle, sind wartungsintensiver und „schlucken“ folglich mehr Ressourcen bei der Instandsetzung. Sogar scheinbar kleine Reparaturen, wie das Auswechseln eines defekten Waschraumschlosses, können komplizierter sein als der Austausch größerer Komponenten. Allein das Management der Ersatzteilversorgung stellt Fluggesellschaften vor besondere organisatorische Herausforderungen.
Trotz ihres Alters sind diese Jets sicher im Betrieb, sofern sie regelmäßig gewartet und fachgerecht betreut werden. Eine Studie des Massachusetts Institute of Technology bestätigte bereits 2014, dass kein direkter Zusammenhang zwischen dem Alter eines Flugzeugs und der Unfallrate in Nordamerika und Europa besteht. Entscheidend ist vielmehr die Qualität der Instandhaltung und die Sorgfalt der Betreiber, was bei kanadischen Gesellschaften für den Betrieb in abgelegenen Regionen oft besonders streng gehandhabt wird. In Kanada sind viele dieser alten Jets bei Gesellschaften wie Air Inuit oder der Chartergesellschaft Nolinor Aviation im Einsatz. Sie fliegen oft zur Versorgung der nördlichen Gemeinden, aber auch zu Bergbaugebieten, wo regelmäßiger Transport von Personen und Gütern zwingend erforderlich ist.
Im Bergbausektor sind Landebahnen oft nicht befestigt, da Asphalt oder Beton wegen saisonaler Herausforderungen wie Permafrost nicht praktikabel oder zu kostenintensiv sind. Zudem müssten diese Oberflächen nach längerem Betrieb häufig erneuert werden, was wirtschaftlich nicht sinnvoll ist. Es gibt jedoch Bewegung hin zu moderneren Lösungen. Einige Minengesellschaften experimentieren etwa mit alternativen Landebahnmaterialien wie Aluminiumplatten, die teurer, aber langlebiger sind. Auch der Einsatz von Produkten zur Stabilisierung und Verhärtung von Schotterpisten wird vorangetrieben.
Der Staat investiert in neuer Infrastruktur, um den Bau von Landebahnen zu ermöglichen, die auch von zeitgemäßeren Flugzeugen genutzt werden können. Solche Entwicklungen könnten dazu führen, dass die Zahl der alten 737-200 in den kommenden Jahren langsam abnimmt. Doch angesichts der enormen Herausforderungen Kanadas – von langen Distanzen, extremen Wetterbedingungen bis hin zu schwierigen Landebahnbedingungen – wird die Boeing 737-200 vermutlich noch für einige Zeit ein unverzichtbares Arbeitsgerät im nördlichen Luftverkehr bleiben. Denn moderne Flugzeuge schaffen oft nicht die Balance zwischen Effizienz, Robustheit und Anpassungsfähigkeit an die harten Rahmenbedingungen, die in vielen Teilen Kanadas herrschen. Zusammenfassend zeigt sich, dass Kanadas besondere geographische und infrastrukturelle Gegebenheiten eine einzigartige Flugzeugflotte notwendig machen.
Die älteren Boeing 737-200 sind das Resultat jahrzehntelanger Anpassungen an harte Umweltbedingungen und spezifische Anforderungen des Binnenlandes. Für Außenstehende mag deren Alter ein Nachteil sein, doch in der Praxis sind diese Maschinen speziell für den kanadischen Norden konzipiert und erfüllen dort wichtige Funktionen. Die Verbindung von Geschichte, Technik und Geografie macht Kanadas außergewöhnlichen Umgang mit diesen Oldtimern der Lüfte zu einem faszinierenden Kapitel der Luftfahrtgeschichte.