William Kentridge gilt als der bedeutendste lebende Künstler Südafrikas und hat sich weltweit einen Namen als vielseitiger Meister der bildenden Künste gemacht. Sein künstlerisches Schaffen umfasst eine bemerkenswerte Bandbreite an Medien: von zeichnerischen Werken, experimentellen Animationen, Skulpturen bis hin zu Theater- und Opernproduktionen. Das Herzstück seiner Inspiration liegt tief in Johannesburg verwurzelt, jener pulsierenden Metropole, die nicht nur seine Heimat, sondern zugleich ein komplexes Sinnbild für Südafrikas Geschichte und Gegenwart ist. Kentridges Familiendomizil in einem von englischen Architekten gestalteten Art-and-Crafts-Haus im Norden Johannesburgs spiegelt auf besondere Weise die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart wider. Das Haus wurde Anfang des 20.
Jahrhunderts von Frank Emley und Frederick Williamson erbaut und gehört seit den 1990er Jahren wieder dem Künstler, nachdem seine Eltern nach London gezogen sind. Es ist ein Ort, der von Erinnerungen lebt: in den Schränken lagern Relikte aus den 1960er Jahren, beispielsweise die Uniform seines Vaters sowie das Hochzeitskleid seiner Mutter. Dieses Zuhause symbolisiert für Kentridge mehr als nur einen Wohnort – es ist ein kreativer Knotenpunkt, in dem Vergangenheit und Gegenwart zu einer künstlerischen Geschichte zusammenfließen. In seinem lichtdurchfluteten Atelier, eingebettet in einen englisch anmutenden Garten mit Jacaranda-Bäumen und einer Reihe von Pflanzen, die von seiner Familie über Jahrzehnte gepflegt wurden, schöpft Kentridge Inspiration für sein immenses Werk. Der Garten wurde über viele Jahre mit Hingabe gestaltet, nicht zuletzt wegen eines besonderen Ereignisses: der Hochzeit seiner Tochter.
Die Gestaltung dieses Naturraums ist ebenso durchdacht wie seine künstlerische Arbeit – ein Versuch, Ordnung und Schönheit in einer Stadt zu schaffen, die für ihre Gegensätze zwischen Reichtum und Armut, Licht und Schatten bekannt ist. William Kentridge wuchs in einer politisch engagierten Familie auf. Seine jüdischen Eltern waren Anwälte, die vehement gegen das Apartheid-Regime kämpften und unter anderem Nelson Mandela rechtlich unterstützten. Dieses Erbe prägt seine Arbeit bis heute. Man erzählt sich, dass ein einschneidender Moment seiner Kindheit darin bestand, als junger Junge in das Schreibtisch seines Vaters zu blicken und statt Süßigkeiten Fotografien von Opfern des Sharpeville-Massakers zu sehen – ein Ereignis, das tiefgreifende Spuren in Kentridges späterem künstlerischen Schaffen hinterließ.
Es war ein Wendepunkt, bei dem sich seine Wahrnehmung der Welt grundlegend veränderte. Sein Studium der Politikwissenschaften und Afrikastudien an der Universität lahmte zunächst nicht seine künstlerische Berufung. Nach einem kurzen, nicht erfolgreichen Versuch als Mime in Paris wandte er sich schließlich der Filmproduktion in Johannesburg zu. Seine wahre künstlerische Karriere begann spät, erst in seinen späten Zwanzigern, als er eine Serie von 9 Zeichnungen für Projektion ankündigte – eine Reihe von rauen Kohleanimationen, die 1989 veröffentlicht wurden und ihm rasch internationale Anerkennung einbrachten. Die politische Dimension seiner Arbeiten ist untrennbar mit einer persönlich-philosophischen Ebene verbunden.
Kentridge beschreibt den politischen Impuls seiner Kunst als etwas, das oft unterbewusst in sein Denken einsickert. Die wechselvollen Geschichten von Johannesburg fließen in seine Werke ein, die dadurch zu einer Art visueller Chronik der Stadt und ihres Wandels nach der Apartheid werden. Er zeigt die Kontraste zwischen Wohlstand und Verfall, zwischen Licht und Dunkelheit, die für Johannesburg charakteristisch sind. Seine Werke sind mehr als nationale Reflexionen – sie treffen universelle Themen. So bezieht sich Kentridge nicht nur auf Ereignisse wie das Sharpeville-Massaker und die sozialen Unruhen in Südafrika, sondern reflektiert auch über die menschliche Verletzlichkeit, den Umgang mit Traumata und die Suche nach Hoffnung.
Diese facettenreiche Mischung aus politischer Geschichte, menschlicher Erfahrung und poetischer Erzählung macht seine Arbeit weltweit relevant und berührend. Im Haus und seinem Atelier findet man nicht nur seine interaktiven Zeichnungen und Skulpturen, sondern auch Artefakte und Sammlerstücke, die seine künstlerische Identität prägen. Drucke von Albrecht Dürer und Edward Hopper stehen neben von ihm eigens gefertigten Puppen für Theaterproduktionen. Bronze-Skulpturen wie ein Paar offene Scheren, ein Grammophon oder ein Pferd, die wiederkehrende Symbole seiner Bildsprache sind, reihen sich an den Wänden des Wohnzimmers auf. Textilien, Wandbehänge und liebevoll platzierte Objekte erzählen von einem Leben, das Kunst und Alltag untrennbar verbindet.
Zusätzlich zum Zuhause betreibt Kentridge mit der Künstlerin Bronwyn Lace in der Innenstadt von Johannesburg The Centre for the Less Good Idea, ein interdisziplinäres Kunst- und Theaterzentrum. Der Name des Zentrums, entlehnt an einen schöpferischen Setswana-Spruch, bringt Kentridges Wunsch zum Ausdruck, stets in Verbindung zu bleiben und sich nicht in einer isolierten Blase zu bewegen. Dort finden Experimente und Kollaborationen mit jungen lokalen Künstlern statt, die seine kreative Praxis ergänzen und bereichern. Die Bedeutung von Kentridges Kunst wird neben der intensiven Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft auch durch die internationale Anerkennung sichtbar. Seine Werke sind Teil bedeutender Museumssammlungen wie im Tate Modern, MoMA New York und im Centre Pompidou in Paris.
Seine Ausstellungen, darunter die jüngste im New Yorker Hauser & Wirth und die kommende im Yorkshire Sculpture Park, zeigen ihn als einen Künstler, der klassische Bildhauerei und moderne digitale Techniken, das Medium Film und Theater, die visuelle Kunst und Musik durchdringend miteinander verbindet. Die Serie „Self-Portrait as a Coffee-Pot“ ist ein Paradebeispiel für Kentridges erweiterte künstlerische Methodik. Diese neunteilige Filmarbeit kombiniert animierte Kohlezeichnungen, in denen Bilder geschichtet und immer wieder überschrieben werden, mit Soundelementen und einer narrativen Selbstbetrachtung. Das Werk entstand während der Pandemie, eine Zeit, die Kentridge als fruchtbare Phase der Isolation und Reflexion beschreibt, in der er der Tiefe seines kreativen Prozesses nachgehen konnte. Es ist ein poetisches Spiel mit Erinnerungen, der Transformation von Bildern und der Frage nach der eigenen Identität als Künstler.
Auch die für 2026 geplante Opernproduktion von Claudio Monteverdis „L’Orfeo“ reflektiert Kentridges künstlerischen Anspruch, mehrere Ebenen von Darbietung und Interpretation zu verbinden. Dabei entstehen Modelle und komplexe Projektionen, die das Schauspiel und die Musik in ein vielschichtiges Gesamtkunstwerk verwandeln. Die aufwendigen Vorbereitungen machen deutlich, wie vielschichtig und detailreich Kentridges Ansatz ist. Die politische Relevanz seiner aktuellen Werke wurde besonders bei der Ausstellung „The Pull of Gravity“ im Yorkshire Sculpture Park evident, die auf Ereignisse wie den Krieg in der Ukraine reagiert und sich mit Themen wie Größenwahn und Macht auseinandersetzt. Überlebensgroße Skulpturen von Pferden oder Figuren mit Megaphonkopfmotive symbolisieren laut Kentridge universelle, aber zugleich politikdurchtränkte menschliche Erfahrungen von Aufstieg und Fall.
Trotz seiner weltweiten Anerkennung beschreibt William Kentridge seine kreative Arbeit als kontinuierlichen Prozess von Selbstzweifel und Suche. Er betont, wie wichtig eine „Lücke“ oder ein Gefühl des Mangels für künstlerische Inspiration sind, um nicht satt und zufrieden mit dem Bekannten zu sein, sondern stets Neues zu entdecken. Das Vermeiden absoluter Gewissheiten sieht er als Schlüssel für nachhaltige Kreativität. Durch diesen Zugang gelingt es ihm, Werke zu schaffen, die nicht nur Dokumente ihrer Zeit sind, sondern auch ein Bleibendes hinterlassen. Kentridges Lebens- und Schaffensweg zeigt eindrucksvoll, wie eng persönliche Biografie, politisches Bewusstsein und künstlerische Innovation miteinander verflechten können.
Von seinem Familiendomizil, durchzogen von Erinnerungsschichten und erfüllt von künstlerischer Produktivität, bis zu seiner internationalen Position als Avantgarde-Künstler, ist William Kentridge zu einem unentbehrlichen Chronisten der südafrikanischen und globalen Gegenwartskunst geworden. Seine Suche nach Verbindungen zwischen Individuum, Geschichte und gesellschaftlichen Umbrüchen macht ihn zu einem unverzichtbaren Stimmen der Kunstwelt, dessen Bedeutung weit über die Grenzen seines Heimatlandes hinaus strahlt.