Die moderne Softwareentwicklung in Unternehmen ist geprägt von einer Vielzahl technischer Herausforderungen. Eine dieser Herausforderungen besteht darin, die verschiedenen Ebenen der Technik sinnvoll zu organisieren und zu steuern. Jack Danger hat in seinen Arbeiten die Begriffe Infrastructure Gravity und Domain Engineering geprägt und erklärt, warum diese Konzepte für den Erfolg von Technologieunternehmen von großer Bedeutung sind. Dabei geht es um viel mehr als nur um technische Details – es geht um Organisationsstrukturen, Verantwortlichkeiten und langfristige Produktivität. Die Entwicklung eines Produkts startet meist mit vollem Fokus auf die sichtbaren Funktionen, die für Nutzer relevant sind.
Der sogenannte Oberfläche der Technologie, die Produktentwicklung, steht im Mittelpunkt. Darunter gibt es jedoch zwei weitere, oft vernachlässigte Ebenen, die für Stabilität, Sicherheit und die schlussendliche Produktqualität unerlässlich sind: einerseits die Infrastruktur, die die technische Basis bildet, und andererseits das Domain Engineering, das die Netzwerkzone zwischen Produkt und Infrastruktur beschreibt. Jack Danger beschreibt, dass viele Unternehmen im technischen Bereich zwei Schichten unterscheiden – Produktentwicklung und Infrastruktur –, die jedoch unterschiedliche Bedürfnisse, Ziele und Herausforderungen haben. Dies führt oft zu Fehlentwicklungen, weil die mittlere Schicht, das Domain Engineering, unbeachtet bleibt. Dabei ist gerade diese mittlere Ebene für die effiziente Verbindung und Wiederverwendung von domänenspezifischem Wissen essenziell.
Infrastructure Gravity beschreibt das Phänomen, dass technische Mitarbeiter, die im Infrastruktur-Bereich angesiedelt sind, oft einen starken Zug nach unten Richtung der Basis des technischen Stacks verspüren. Hier sind Aufgaben angesiedelt, die eher allgemeine und übertragbare technische Fähigkeiten erfordern: Cloud-Architektur, Deployment-Prozesse, CI/CD-Systeme, Monitoring und Sicherheit. Diese Aufgaben sind zwar essenziell für die Stabilität und Zuverlässigkeit der Systeme, bieten jedoch wenig Raum für die individuelle Gestaltung des Produktes und können Karrierezielen und Gehaltsanreizen entgegenkommen. Deshalb finden sich häufig Experten in diesen Bereichen, die sich nur selten auf die mittlere Schicht der Produktarchitektur einlassen – ein Paradox, denn gerade dort ruhen viele unternehmensspezifische Wettbewerbsvorteile. Auf der anderen Seite gibt es das Konzept des Feature Lift, das die Kräfte beschreibt, die Entwickler nach oben an die sichtbare Oberfläche drücken.
Hier geht es vor allem darum, neue Funktionen schnell und sichtbar auf den Markt zu bringen, weil diese kurzfristig als Erfolg oder Fortschritt wahrgenommen werden. Der Druck, schnell Feature-Updates und Neuerungen zu liefern, führt allerdings oftmals dazu, dass tiefgreifende Verbesserungen und das Aufräumen von technischer Schuld vernachlässigt werden. Die Folge ist, dass technische Schulden weiter wachsen und das System auf Dauer instabil wird. In der Mitte liegt der Bereich, der weder von Infrastructure Gravity nach unten gezogen wird, noch vom Feature Lift nach oben. Dies ist die Domäne des Domain Engineerings.
Hier werden die wiederverwendbaren, unternehmensspezifischen Bausteine entwickelt, die das Entwickeln neuer Features vereinfachen, beschleunigen und konsistenter machen. Domain Engineering schafft eine gemeinsame Sprache und Architektur für die verschiedenen Produkte und Features eines Unternehmens und bildet die Grundlage, auf der Innovationen und Schnelligkeit in der Produktentwicklung nachhaltig fußen. Das Domain Engineering kümmert sich beispielsweise um unternehmensspezifische Geschäftslogiken, die über mehrere Produkte verteilt sind, oder um integrative Prozesse wie Berechtigungsmodelle, die mehr sind als nur generische Authentifizierungslösungen. Ein Beispiel könnte die Gestaltung eines zentralen Autorisierungs- und Authentifizierungssystems sein, das nicht nur die technischen Details der Benutzerzugriffe regelt, sondern auch spezifische Unternehmensprozesse mit einbezieht, wie etwa differenzierte Zugriffsstufen, Fehlerbehandlung oder User Experience für verschiedene Anwendungen. Viele Unternehmen kennen dieses mittlere Layer nicht explizit oder haben Schwierigkeiten, es als isolierte Einheit in der organisatorischen Struktur zu verankern.
Häufig wird es der Infrastruktur oder der Produktentwicklung zugeschlagen, was jedoch der speziellen Rolle und Bedeutung dieser Schicht nicht gerecht wird. Diese Fehlzuordnung führt dazu, dass Domain Engineering-Mitarbeiter isoliert werden oder ihre Arbeit unter mangelnder Sichtbarkeit leidet. Jack Danger betont, dass ein bewusster Aufbau und die gezielte Investition in Domain Engineering zu einem dramatischen Produktivitätsgewinn führen können. Während der Produktentwicklung natürliche Grenzen in der Skalierbarkeit durch Feature Lift existieren und die Infrastruktur durch Infrastructure Gravity strikt limitiert ist, entfaltet das Domain Engineering das Potenzial für überproportionale Effekte. Hierdurch wird die gesamte Entwicklung effizienter, da repetitive Aufgaben reduziert, gemeinsame Standards etabliert und domänenspezifisches Wissen systematisch nutzbar gemacht wird.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass das Domain Engineering verhindert, dass technischer Schuldenabbau und Produktinnovationen gegeneinander ausgespielt werden. Es schafft eine eigene Kategorie der Arbeit, die sich auf das langfristige Wachstum des Produkts und auf die Haltefähigkeit technischer Qualität konzentriert, ohne dass dafür das Tagesgeschäft der Featureentwicklung beeinträchtigt wird. Zur finanziellen Modellierung dieses Bereichs schlägt Danger vor, die Produktivität als Funktion von drei Faktoren zu betrachten: der Anzahl der Mitarbeiter in der Produktentwicklung, ihrer Geschwindigkeit und dem ‚Thrust to Drag‘-Verhältnis, welches durch die Domain Engineering Kapazitäten und Zeit beeinflusst wird. Diese Formel verdeutlicht, dass reines Aufstocken der Produktentwicklung oder Infrastrukturteams langfristig allein nicht den gewünschten Produktivitätssprung bringen kann. Nur gezielte und ausreichende Investitionen in das Domain Engineering erlauben es, Entwicklungsgeschwindigkeit nachhaltig zu steigern und Kosten durch technische Schulden zu reduzieren.
Von der praktischen Perspektive aus betrachtet stellt sich die Frage, wie ein Unternehmen Domain Engineering erfolgreich in die bestehenden Strukturen integriert. Es bedarf einer klaren Verantwortlichkeit, gezielter Förderung spezialisierter Teams und angemessener Kommunikation mit Produkt und Infrastruktur. Domain Engineering sollte nicht als lästige Querulantenbande betrachtet werden, sondern als ein eigenständiger Hebel für Innovation, Schnelligkeit und Qualität. In Unternehmen, wo Domain Engineering exzellent funktioniert, erleben wir eine stärkere Verzahnung und Wiederverwendung von Komponenten und Services. Entwickler können sich darauf verlassen, dass grundlegende Prozesse solide und durchdacht implementiert sind und damit den Fokus mehr auf neuen Features und Innovationen legen, statt immer wieder Grundlegendes neu erfinden zu müssen.
Ein praktisches Beispiel aus der Industrie könnte man bei großen Tech-Firmen wie Airbnb, Stripe oder GitHub beobachten, wo spezifische Informationen und Prozesse – beispielsweise Buchungen, Zahlungen oder Repository-Verwaltung – klar in eigenen Domänenstrukturen gebündelt und gepflegt werden. Dadurch können Teams schneller neue Features entwickeln, ohne stets tief in technische Details einzutauchen, die das Unternehmen schon früher gelöst hat. Abschließend lässt sich sagen, dass Infrastructure Gravity und Feature Lift zwar wichtige Kräfte im technischen Kosmos eines Unternehmens sind, aber ohne bewusstes Domain Engineering drohen, die Entwicklung zu fragmentieren und zu verlangsamen. Die mittlere Schicht benötigt daher nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch eigenständige Strukturen und Budgets, um das langfristige Wachstums- und Innovationspotenzial von Technologieunternehmen auszuschöpfen. Unternehmen, die den Mittelweg aus der Balance bringen, können deutliche Wettbewerbsvorteile erzielen.
Sie verhindern die Abwanderung von Talenten durch unklare Verantwortlichkeiten, reduzieren technische Schulden systematisch und steigern die Entwicklungsgeschwindigkeit nachhaltig. Die Investition in Domain Engineering ist somit nicht nur eine technische Notwendigkeit, sondern eine strategische Entscheidung für nachhaltigen Erfolg im digitalen Zeitalter.