Sierra On-Line war einst eine der bedeutendsten Spieleschmieden der Computerunterhaltungsbranche. Die Firma erlangte ihren Ruf durch innovative und charmante Computerabenteuer, die viele Spieler weltweit begeisterten. Doch wie so viele erfolgreiche Unternehmen durchlebte auch Sierra eine Transformation, die das Gesicht der Firma und ihre Beziehung zu Oakhurst, einer Kleinstadt in Kalifornien, maßgeblich veränderte. Die sogenannte „Hundstage von Oakhurst“ markieren den letzten Abschnitt der intensiven Verknüpfung zwischen Sierra und der Stadt, die die Firma so lange als Heimat bezeichnete. Oakhurst ist keine gewöhnliche Stadt.
Sie hat eine historische Tiefe, die weit über ihre Rolle als Sitz von Sierra hinausgeht. Ursprünglich im 19. Jahrhundert unter dem Namen Fresno Flats gegründet, war die kleine Gemeinde Schauplatz zahlreicher historischer Ereignisse und Legenden wie etwa dem berüchtigten Postkutschenüberfall von 1885, der Eingang in die lokale Folklore fand. Im Jahr 1912 nahm sie den heutigen Namen Oakhurst an, was auch eine symbolische Abkehr von der früheren Plünderer- und Goldgräberzeit bedeutete. Im 20.
Jahrhundert avancierte Oakhurst dank des aufkommenden Tourismus zur „Pforte zum Yosemite-Nationalpark“ und wurde zur Kulisse einer neuen Generation von Pionieren – darunter auch Ken und Roberta Williams, die 1980 hierherzogen, um ihr Unternehmen On-Line Systems, später Sierra On-Line, zu gründen. Die Wahl, Sierra in einer abgeschiedenen Kleinstadt wie Oakhurst zu gründen und zu betreiben, war ungewöhnlich, brachte aber auch eine besondere Atmosphäre hervor. Die Williamses waren auf der Suche nach einer Umgebung, die Freiheit und kreativen Ausdruck erlaubte, fernab der Hektik der größeren IT-Zentren. Dies spiegelte sich in der Firmenkultur wider: Eine Gemeinschaft von Softwarekünstlern schuf bahnbrechende Spiele, die sich durch Innovation, Humor und ein besonderes Flair auszeichneten. Dabei halfen der unkonventionelle Standort sowie das direkte Zusammensein der Entwickler zu produktiven Synergien.
Die frühen Erfolge von Sierra – allen voran das sagenumwobene King’s Quest und die Quest for Glory-Reihe – positionierten das Unternehmen als einen der Hauptakteure der Adventure-Game-Szene. Doch Anfang der 1990er stellten sich neue Herausforderungen. Mit der Expansion der Firma wurde eine zweite Niederlassung nahe Seattle, in Bellevue, Washington, eröffnet. Die Nähe zum Technologie-Mekka Microsofts war strategisch motiviert und sollte die Rekrutierung von Fachkräften erleichtern sowie die administrativen Abläufe professionalisieren. Allerdings begann diese Aufteilung der Standorte zu einer Distanzierung zwischen dem angestammten Entwickler- und Kreativteam in Oakhurst und der Geschäftsebene in Bellevue zu führen.
Kurz nach der Eröffnung der Bellevue-Niederlassung kam es zu drastischen Umstrukturierungen und Entlassungswellen, die viele langjährige Mitarbeiter in Oakhurst betrafen. Diese Maßnahmen wirkten wie ein Weckruf, dass die glorreichen Tage einer nahezu familiären Spielewerkstatt vorüber waren. Geschäftsführer Ken Williams, früher für sein lockeres, fast schon rebellisches Auftreten bekannt, präsentierte sich zunehmend nüchtern und geschäftsorientiert – ein Spiegelbild der sich wandelnden Unternehmensrealität. Das Jahr 1996 brachte weitere Turbulenzen mit sich, als Sierra On-Line von dem Firmenkonglomerat CUC International übernommen wurde. CUC war weit weniger mit der Welt der Computerspiele vertraut und sah Sierra eher als ein Investmentobjekt denn als Kreativschmiede.
Der Konzernwandel zeigte sich als Katalysator für eine Phase der Unsicherheit und des Umbruchs. Die von den Mitarbeitern in Oakhurst gefürchtete Umstrukturierung und weitere Entlassungen fanden tatsächlich statt, und die Identifikation mit der Marke Sierra wurde immer schwieriger. Trotz aller widrigen Umstände entstanden in Oakhurst noch einige der bekanntesten Spiele der Marke. Besonders das letzte Kapitel der Quest for Glory-Reihe, das Spiel Quest for Glory V: Dragon Fire, steht stellvertretend für diese Ära. Die Brüder und Schwestern des Genres erlebten einen Wandel hin zu dreidimensionalen Welten und actionorientierterem Gameplay, was nicht nur neue technische Herausforderungen mit sich brachte, sondern auch zu erhöhtem Druck auf Design und Produktion.
Die Entwicklung von Quest for Glory V war geprägt von technischen Experimenten – angefangen bei einem geplanten, aber wieder verworfenen Voxel-Grafiksystem bis hin zu einer eigens entwickelten 3D-Engine, die dem Spiel ein modernes Erscheinungsbild verleihen sollte. Diese technischen Aufwendungen führten jedoch zu Komplikationen, längeren Entwicklungszeiten und einem höheren Budget. Trotz der ansprechenden Atmosphäre und der vergleichsweise soliden Spielmechanik wurde das Spiel nur mäßig aufgenommen. Negative Kritiken, bedingt auch durch Bugs und unklare Spielerführung, sowie verhaltene Verkaufszahlen signalisierten den Niedergang der klassischen Adventure-Spielserie. Die nostalgische Welle, die das Spiel trug, konnte nicht aufrechterhalten werden, und Quest for Glory V wurde zugleich als Abschied von einer Ära betrachtet, in der Narrative und Rollenspiel nahtlos verschmolzen.
Die Multiplayer-Pläne, die den Titel ursprünglich attraktiv für eine jüngere, online-affine Generation machen sollten, verschwanden schließlich; das Spiel wurde eine Hommage an die klassische Einzelspieler-Erfahrung. Parallel zu diesen Entwicklungen sackte auch das ursprüngliche Herz von Sierra in Oakhurst immer mehr in sich zusammen. Das ursprünglich kleine Team mit einer intensiven Firmenkultur und persönlichem Austausch wurde aufgelöst, Teile der Produktion wurden ins entfernte Bellevue, später an noch andere Orte verlagert. Interne Spannungen und teils widersprüchliche Unternehmensstrategien sorgten für Unruhe und Verunsicherung. Neben der wirtschaftlichen und kulturellen Verschiebung waren es auch die technologische Entwicklung und der Wandel im Spielemarkt, die Sierra zunehmend unter Druck setzten.
Die zunehmende Komplexität von 3D-Engines, der Bedarf an größeren Teams, kostspieligere Entwicklung und die Konzentration auf Blockbuster-Titel machten es für einen Kanal wie Sierra schwieriger, sich anzupassen. Die individuellen, handwerklichen Arbeiten der frühen Jahre fanden immer weniger Raum im zunehmend industrialisierten Markt. Viele der ehemaligen Sierra-Mitarbeiter, darunter auch die Entwickler von Quest for Glory wie Corey und Lori Ann Cole, blieben trotz alledem in Oakhurst verwurzelt und versuchten, ihre Arbeit auf andere Themen und Plattformen zu übertragen. Contracting-Projekte und kleinere unabhängige Entwicklungen wurden zur neuen Realität, während Sierra selbst sich unter wechselnden Besitzverhältnissen und Strategieschwankungen verlor. Das Vermächtnis von Sierra On-Line in Oakhurst bleibt dennoch lebendig.