Die Digitalisierung staatlicher Systeme gehört zu den größten Herausforderungen der öffentlichen Verwaltung weltweit. Großbritannien hat mit dem Projekt Universal Credit eine der ambitioniertesten Initiativen gestartet, um sechs unterschiedliche Sozialleistungssysteme in ein einheitliches, digitales Angebot zu überführen. Dieses Projekt gilt als das größte digitale Vorhaben seiner Art überhaupt – doch die Reise war lang, teuer und schwierig. Überraschenderweise wurde das Erfolgsrezept mit der Hilfe von Haftnotizen, die an Bürowänden klebten, entscheidend geprägt. Universal Credit wurde mit dem Ziel ins Leben gerufen, Bürokratie abzubauen, das Sozialleistungssystem zu vereinfachen und über eine digitale Plattform schneller und effizienter Unterstützungsleistungen zu gewähren.
Ursprünglich 2010 gestartet, war das Projekt von zahlreichen Problemen geprägt. Die Kosten stiegen um fast eine Milliarde Pfund, und die Fertigstellung verzögerte sich über ein Jahrzehnt hinaus. Die Anfänge wurden von mangelnder Kontrolle über die beteiligten IT-Dienstleister geprägt, was sogar zu erheblichen Fehlinvestitionen führte. Der Wendepunkt kam 2013 mit einem umfassenden „Reset“ des Programms. Dieser Neuanfang sorgte für die enge Verzahnung von IT-Entwicklern, Sicherheitsexperten und den Behördenmitarbeitern des Department for Work and Pensions (DWP), die das System betreiben.
Statt langwieriger E-Mail-Kommunikation und isolierter Silos arbeiteten die Fachleute nun gemeinsam – an einem Ort und in direktem Austausch. Hier kommen die scheinbar banalen Haftnotizen ins Spiel, die im Gespräch von Sir Iain Duncan Smith, dem damaligen Minister, hervorgehoben wurden. Statt komplexer Software-Tools für das Management von Problemen und Feedback wurden physische Notizzettel verwendet, um Hindernisse sichtbar zu machen und sofortige Interaktion zu fördern. Wenn ein Teammitglied ein Problem hatte, schrieb es dieses auf eine Post-It-Note und klebte es für alle sichtbar an eine Pinnwand. Kollegen konnten jederzeit vorbeigehen, die Notizen lesen und direkt Lösungen anbieten.
Diese dynamische und visuelle Form der Zusammenarbeit bewirkte eine enorme Beschleunigung des Projekts. Die Anwesenheit der Beteiligten im selben Raum förderte zudem ein gemeinsames Verständnis für die Herausforderungen. Entwicklungsarbeiten und die Vorbereitung der Jobcenter, die die Auszahlung der Leistungen vor Ort gewährleisteten, liefen nicht mehr parallel nebeneinander her, sondern in ständiger Synchronisation. Das nahm Siloeffekte und erzeugte neues Tempo und Flexibilität. Diese Methodik, so Sir Iain Duncan Smith, sei mittlerweile Standard in der Softwareentwicklung – die Umsetzung im größten digitalen Regierungsprojekt hat aber international begeistert.
Neben der verbesserten Zusammenarbeit war ein anderer wichtiger Schritt das Aufbrechen von starren Gehaltsgrenzen für IT-Fachkräfte im öffentlichen Dienst. Um die nötige Expertise zu gewinnen, wurde in qualifizierte Digitalspezialisten investiert, auch wenn dies über die üblichen Gehaltsrahmen hinausging. Nur so ließ sich die Qualität und Geschwindigkeit sicherstellen, die für die digitale Transformation notwendig war. Trotz dieser Fortschritte lief der Universal Credit Rollout nicht ohne Schwierigkeiten weiter. Laut Berichten der britischen National Audit Office lag der geschätzte Gesamtaufwand für das Projekt Ende 2024 bei knapp 3 Milliarden Pfund.
Die ursprünglichen Zeitpläne mussten wiederholt angepasst werden, und noch immer beziehen Millionen Haushalte alte Leistungen. Dennoch verzeichnete das System beeindruckende Erfolge und eine enorme Skalierbarkeit – besonders sichtbar während der COVID-19-Pandemie. In der Krisenzeit nahm Universal Credit innerhalb von nur zweieinhalb Wochen 1,5 Millionen neue Leistungen auf, ohne dass persönliche Vorsprachen notwendig waren. Das hätte das Altsystem schlichtweg überfordert und zum Zusammenbruch geführt. Die Pandemie erwies sich als Belastungstest, bei dem das digitale System seine Widerstandsfähigkeit belegte und dessen Wert für schnelle Hilfe unter Beweis stellte.
Eine weitere wichtige Erkenntnis war der Wert eines iterativen Vorgehens. Statt eine perfekt ausgeklügelte, starre Lösung von Anfang an zu implementieren, setzte man auf schrittweise Ausrollung und ständiges Lernen aus den Realbedingungen. Erste Nutzererfahrungen führten zu Anpassungen und verbesserten Funktionen. Diese Flexibilität war entscheidend, um die Komplexität menschlichen Verhaltens und der Antragstellung realistisch abzubilden. Viele Probleme vorheriger digitaler Projekte ließen sich dadurch vermeiden.
Der Erfolgsfaktor Haftnotizen steht exemplarisch für eine ganze Philosophie: Digitalisierung ist mehr als Technik. Sie benötigt offene Kommunikation, interdisziplinäres Arbeiten und schnelle Reaktionsfähigkeit. Dies gilt nicht nur für Sozialleistungen, sondern auch für andere Bereiche, in denen die Regierung vor großen Modernisierungsaufgaben steht, etwa im Gesundheits- oder Steuersystem, wo jährlich hunderte Milliarden an Geldflüssen verarbeitet werden. Sir Iain Duncan Smith betont, dass andere Ministerien und Behörden dringend von den Erfahrungen des DWP lernen sollten. Die digitale Transformation staatlicher Dienstleistungen erfordert Mut zur Veränderung und Verständnis dafür, dass Digitalisierung kein Selbstzweck ist – sondern ein Mittel, um Menschen besser und schneller zu helfen.
Die Lessons Learned aus Universal Credit zeigen aber auch, dass großes Investment und Zusammenarbeit auf Augenhöhe unerlässlich sind. Die Geschichte von Universal Credit liefert zahlreiche wertvolle Impulse: Offenheit gegenüber Iterationen, rigorose Kontrolle und Koordination der Lieferanten, Priorisierung von Fachwissen, und vor allem der Mut zu pragmatischen Lösungen, die miteinander kommunizieren statt isoliert agieren – auch wenn es nur Haftnotizen an einer Wand sind. Für viele digitale Großprojekte in Regierung und Verwaltung weltweit könnten diese Prinzipien zum entscheidenden Erfolgsfaktor werden. Während der Weg lang und holprig ist, zeigt das Beispiel Universal Credit, dass auch komplexe Systeme mit richtigen Methoden, klarer Führung und engagierten Teams erfolgreich neu gestaltet werden können – und dass oft die einfachsten Werkzeuge den größten Unterschied machen.