Die menschliche Sehfähigkeit ist seit jeher ein Maßstab für technologische Innovationen im Bereich der künstlichen Intelligenz. Unsere Augen können Farben differenzieren, Bewegungen erkennen und eine riesige Menge an visuellen Informationen mit minimalem Energieaufwand verarbeiten. Genau hier setzen die Forscher der Tokyo University of Science an, um künstlicher Intelligenz eine ähnlich effiziente und differenzierte Sichtweise zu ermöglichen. Mit der Entwicklung eines selbstversorgenden künstlichen Auges, das auf innovativen solarzellenbasierten Sensoren beruht, ist ein entscheidender Schritt hin zu einer neuen Generation von maschinellen Sehsystemen gelungen. Das Zusammenspiel aus Lichtempfindlichkeit, Farbauffassung und Bewegungsanalyse könnte die Funktionsweise von KI-Systemen in vielen Bereichen grundlegend verändern und effizienter gestalten.
Das künstliche Auge basiert auf einem sogenannten optoelektronischen künstlichen Synapsenprinzip. Dabei handelt es sich um eine neuartige Technologie, die das menschliche Auge insofern nachahmt, als dass sie auf unterschiedliche Lichtfarben unterschiedlich reagiert. Die Erfindung beruht auf zwei komplementären Farbsensitivitäten – eine solarzellenbasierte Komponente spricht vornehmlich auf blaues Licht an, während die andere für rotes Licht optimiert ist. Dieses zweipolare Reaktionsmuster, das sowohl positive als auch negative elektrische Signale erzeugt, eröffnet völlig neue Möglichkeiten bei der Verarbeitung visueller Reize. Konventionelle Fotodetektoren liefern lediglich eindimensionale Signale, woraus sich ein deutlich geringerer Informationsgehalt ergibt.
Die Fähigkeit, Lichtfarben mit einer Differenz von nur 10 Nanometern zu unterscheiden, verschafft dem neuen künstlichen Auge eine Präzision auf menschlichem Niveau. Ein herausragendes Merkmal des künstlichen Auges ist die autonome Energieversorgung. Die in das Design integrierten Farbstoff-Solarzellen generieren Energie aus eintreffendem Licht und benötigen somit keine externe Stromquelle. Dieser Aspekt hat zentrale Bedeutung für den Einsatz in mobilen oder schwer zugänglichen Geräten wie autonomen Fahrzeugen, tragbaren Gesundheitsmonitoren oder Umwelt- und Sicherheitsüberwachungssystemen. Der Verzicht auf eine externe Stromversorgung kombiniert mit der selektiven Informationsverarbeitung reduziert den Energiebedarf dramatisch und steht im deutlichen Gegensatz zu herkömmlichen Maschinen-Vision-Systemen, die enorm rechenintensiv und stromhungrig sind.
Das künstliche Auge wurde zudem erfolgreich mit den Grundrechenoperationen der digitalen Logik getestet. Es ermöglichte die Umsetzung von AND-, OR- und XOR-Operationen rein auf Basis der optisch erzeugten elektrischen Signale. Ein weiterer bedeutender Entwicklungsschritt war die Anwendung von physikalischem Reservoir Computing, das die Materialeigenschaften des künstlichen Synapsenmaterials nutzt, um komplexe Muster zu erkennen, ohne auf umfangreiche klassische Computerhardware zurückzugreifen. Mit dieser Methode konnte der Sensor Kombinationen von bis zu sechs Bit langen Farbcode-Sequenzen mit einer beeindruckenden Genauigkeit von 82 Prozent klassifizieren. Die Forschenden demonstrierten die Fähigkeit des künstlichen Auges zur Erkennung menschlicher Bewegungen anhand von Videos realer Aktionen.
Sechs verschiedene Bewegungsmuster wurden aufgenommen, in Farbsequenzen umgewandelt und vom System erfolgreich analysiert. Die hohe Farbklassifikationsrate von 100 Prozent zeigt das Potenzial einer zuverlässigen Unterscheidung von Farbsignalen, während die Gesamtbewegungsbewertung mit 82 Prozent nahe an komplexeren Systemen liegt und dennoch den Vorteil eines geringeren Ressourcenverbrauchs bietet. Obwohl die experimentellen Szenarien bislang kontrollierte und relativ einfache Bewegungsabläufe umfassten, stellt der Erfolg einen vielversprechenden Schritt in Richtung realer Anwendungen dar. Dabei sind Anwendungen im Feld des Edge Computing besonders interessant. In solchen dezentralen Umgebungen müssen Geräte unabhängig von stabiler Netz-Infrastruktur arbeiten.
Sensoren, die autonom mit Sonnenenergie betrieben werden und vor Ort intelligente Entscheidungen treffen können, könnten die Überwachung in entlegenen oder schlecht zugänglichen Regionen revolutionieren. Ebenso können tragbare Medizingeräte von dieser effizienten Farberkennung und Bewegungsanalyse profitieren, indem sie Patienten stärker im Alltag begleiten und überwachen. Die Technologie zeigt jedoch noch Modifikationspotenziale, besonders im Umgang mit variierenden Lichtintensitäten, die momentan die präzise Farberkennung beeinflussen können. Auch die Umwandlung der analogen Signalsignale in klar digitale Ausgaben für eine praktische Anwendung bedarf weiterer Optimierungen. Die Wissenschaftler arbeiten hier an der Verbesserung der Farbstoffmischungen und der Gerätearchitektur, um die Leistung unter realen Umgebungsbedingungen zu steigern.
Diese Neuentwicklung verschiebt die Perspektive bei der Gestaltung maschineller Seh-Systeme deutlich. Während heutige Systeme enorme Ressourcen für Bildakquisition, Datenverarbeitung und Speicher aufwenden müssen, gelingt es dem künstlichen Auge bereits jetzt, visuelle Informationen selektiv zu filtern und energiesparend verarbeitbar zu machen. Das neue Prinzip erlaubt somit einen näheren Anschluss an die Energieeffizienz und Informationsverarbeitungskapazität des menschlichen Auges. Die Kombination von biologischen Inspirationsquellen mit der Flexibilität und Präzision moderner Halbleiter- und Solartechnologien markiert einen vielversprechenden Weg für zukünftige KI-Anwendungen. Schon jetzt zeichnen sich vielfältige zukünftige Einsatzgebiete ab, die vom verbesserten autonomen Fahren über Sicherheitsanwendungen bis hin zu medizinischen Überwachungssystemen reichen.