Mathematik gilt als eine der wichtigsten Grundlagen für viele akademische und berufliche Laufbahnen, insbesondere in den Wissenschaften, Technologien, Ingenieurwesen und Mathematik (MINT). Trotz der enormen Bedeutung dieser Fähigkeiten zeigen sich in vielen Ländern weltweit signifikante Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen – insbesondere ab dem Teenageralter. Dabei schneiden Jungen häufig besser ab, verfolgen häufiger mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer und Karrieren. Die Frage, wann und warum dieser sogenannte mathematische Geschlechterunterschied entsteht, beschäftigt Wissenschaftler, Pädagogen und Bildungsforscher seit Jahrzehnten. Eine kürzlich veröffentlichte, umfangreiche Studie aus Frankreich bringt nun neue, präzise Erkenntnisse zu diesem Thema.
Mit Daten von fast drei Millionen Schulkindern legt die Untersuchung offen, dass der mathematische Gender Gap nicht erst in der Pubertät oder im Jugendalter entsteht, sondern schon im allerersten Schuljahr, also im Alter von etwa sechs Jahren. Diese Entdeckung kann maßgeblich dazu beitragen, Bildungsstrategien zu optimieren und die Chancengleichheit im Mathematikunterricht nachhaltig zu verbessern. Vor dem Schuleintritt zeigen Mädchen und Jungen laut Studien eine fast identische Fähigkeit im Umgang mit Zahlen, Logik und grundlegenden mathematischen Konzepten. Frühkindliche Entwicklungsforschung bestätigt, dass es keine angeborenen kognitiven Unterschiede im mathematischen Verständnis gibt, die Mädchen benachteiligen würden. Dieser Befund ist entscheidend, denn er widerlegt stereotype Vorstellungen, dass Mädchen grundsätzlich weniger talentiert oder interessiert an Mathematik seien.
Der Knackpunkt, an dem Mädchen zurückzufallen beginnen, ist für die Forscher überraschend eindeutig: die erste Klasse. Zu diesem Zeitpunkt verändern sich Lernumgebungen, Erwartungen und möglicherweise auch soziale Dynamiken, die sich auf das Lernen auswirken können. Die französische Studie hat anhand der Analyse der Leistungen fast aller Grundschüler des Landes einen differenzierten Blick darauf geworfen, wie sich die mathematischen Fähigkeiten der Kinder entwickeln und wann sich die Leistungskluft öffnet. Bis zum Schuleintritt bewegen sich Jungen und Mädchen auf Augenhöhe. Erste Hinweise auf eine unterschiedliche Entwicklung der mathematischen Kompetenzen zeigen sich dann, wenn formale Lernstrukturen eingeführt werden.
Die Forscher gehen davon aus, dass verschiedene Faktoren diesen Unterschied beeinflussen könnten – von pädagogischen Methoden bis hin zu gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen, die bereits im Kindergartenalter beginnen. Zum Beispiel könnten innewohnende Geschlechterstereotype eine Rolle spielen, indem Mädchen weniger ermutigt werden, in Mathe stark zu sein oder Schwierigkeiten frühzeitig zu überwinden. Auch Lehrerinnen und Lehrer könnten unbewusst unterschiedlichen Erwartungen haben, die sich in der Förderung der Schüler auswirken. Darüber hinaus zeigen andere Studien, dass das Selbstvertrauen von Mädchen in ihren mathematischen Fähigkeiten in diesem frühen Alter abnimmt, was sich negativ auf ihre Leistung auswirken kann. Die Auswirkungen dieser frühen Entwicklung sind weitreichend.
Wenn Mädchen bereits in der ersten Klasse hinter Jungen zurückliegen, verstärken sich diese Differenzen oft im weiteren Schulverlauf. In der Sekundarstufe und darüber hinaus führt dies zu weniger Mädchen in leistungsstarken Mathegruppen und letztlich zu einem geringeren Anteil von Frauen in MINT-Studiengängen und -Berufen. Die Konsequenzen betreffen nicht nur die individuelle Bildungs- und Berufschance, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes, die auf vielfältige Talente angewiesen ist, um innovative Lösungen zu entwickeln. Strategien zur Verbesserung der Situation müssen deshalb früh ansetzen. Die Studie unterstreicht die Bedeutung von gezielter Förderung bereits im Vorschul- und frühen Grundschulalter.
Pädagoginnen und Pädagogen sollten sich ihrer Rolle bewusst sein und darauf achten, dass Mädchen in Mathematikunterricht und -aktivitäten ebenso stark ermutigt werden wie Jungen. Positive Verstärkung, Abbau von Stereotypen und Förderung eines starken mathematischen Selbstbewusstseins sind dabei entscheidend. Darüber hinaus empfehlen Experten, den Unterricht auf vielfältige Weise zu gestalten, um unterschiedliche Lernstile anzusprechen. Projektbasiertes Lernen, spielerische Elemente und realitätsnahe Aufgaben können das Interesse und die Motivation aller Kinder steigern. Eltern und Gesellschaft sind ebenfalls gefragt, traditionelle Rollenbilder zu hinterfragen und Mädchen zu unterstützen, sich mathematischen Herausforderungen zu stellen.
Die neue Studie zeigt ebenfalls, dass politische Entscheidungsträger und Bildungseinrichtungen verstärkt auf datenbasierte Ansätze setzen sollten. Überwachung der Leistung im frühen Schuljahr und die Entwicklung von gezielten Interventionsprogrammen könnten helfen, den Gender Gap gezielt zu schließen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Forschern, Lehrkräften und Familien ist dafür unabdingbar. Abschließend zeigt die umfassende französische Studie, dass Mädchen beim mathematischen Lernen nicht von Anfang an im Nachteil sind. Der entscheidende Moment, in dem sie hinter Jungen zurückfallen, ist klar datiert und erstreckt sich auf das erste Schuljahr.
Das Wissen um den genauen Zeitpunkt erlaubt einen gezielten Blick auf Ursachen und wirksame Gegenmaßnahmen. Fortschritte in der frühkindlichen Bildung und eine bewusste Förderung von Mädchen in Mathematik können langfristig dazu beitragen, Geschlechterunterschiede im Bildungsbereich zu überwinden und die Chancengleichheit nachhaltig zu stärken.