Die Haenyeo sind eine all-female Gemeinschaft von Freitauchern, die seit Generationen vor der Küste von Jeju Island in Südkorea leben und arbeiten. Diese Frauen widmen ihr Leben dem Tauchen in kalten Gewässern, um Meeresfrüchte wie Abalone, Seeigel und Seetang zu sammeln. Das Besondere an den Haenyeo ist nicht nur ihre Ausdauer und Hingabe an diese herausfordernde Tätigkeit, sondern auch die genetischen Anpassungen, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben und ihnen helfen, Extremen wie kaltem Wasser und erhöhtem Blutdruck zu trotzen. Die Lebensweise der Haenyeo ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie Kultur und Biologie sich gegenseitig beeinflussen und anpassen können.Jeju Island, etwa 50 bis 60 Meilen vor der Küste Südkoreas gelegen, bietet eine unwirtliche Umgebung mit Wassertemperaturen, die im besten Fall nur etwa 10 Grad Celsius erreichen.
Trotz dieser Kälte steigen die Haenyeo regelmäßig ins Wasser, oft sogar bei Schnee und widrigen Wetterbedingungen. Diese Frauen beginnen bereits in jungen Jahren mit dem Tauchen und behalten ihre Leidenschaft bis ins hohe Alter. Beeindruckend ist, dass viele von ihnen selbst während der Schwangerschaft weiterhin tauchen und nur wenige Tage nach der Geburt wieder ins Wasser gehen. Dies allein zeugt von einer enormen körperlichen Belastbarkeit, die sowohl durch Training als auch durch genetische Faktoren unterstützt wird.Wissenschaftler wie die Evolutionsgenetikerin Melissa Ilardo haben sich intensiv mit den Haenyeo beschäftigt, um zu verstehen, wie diese Frauen die widrigen Bedingungen über so lange Zeit meistern.
In Zusammenarbeit mit Forschern an renommierten Universitäten wurden Studien durchgeführt, die physiologische und genetische Daten von Haenyeo-Taucherinnen mit anderen Bewohnerinnen von Jeju Island und außerhalb der Insel verglichen.Ein zentrales Experiment bestand darin, die Reaktion des Körpers auf simuliertes Tauchen zu messen. Da es unmöglich und unverantwortlich wäre, ältere Nicht-Taucherinnen ins offene Meer zu schicken, nutzen Forscher das sogenannte „simulierte Tauchen“. Dabei halten Probandinnen die Luft an und tauchen ihr Gesicht in eine Schüssel mit kaltem Wasser. Dieses Verfahren ruft eine typische Taucher-Reaktion hervor: der Herzschlag verlangsamt sich spürbar, um den Sauerstoff im Körper besser zu nutzen und die Überlebenszeit unter Wasser zu verlängern.
Die Ergebnisse zeigten, dass bei den Haenyeo der Puls um etwa 50 Prozent stärker sinkt als bei den Kontrollgruppen, die aus Nicht-Taucherinnen bestanden. Bei einer Taucherin fiel der Herzschlag sogar innerhalb von 15 Sekunden um über 40 Schläge pro Minute. Diese starke Reaktion ist ein Beweis für eine physiologische Anpassung, die durch Jahre, wenn nicht sogar Generationen des kontinuierlichen Tauchens geprägt wurde.Neben diesen Kurzzeitreaktionen untersuchten Wissenschaftler auch die genetischen Unterschiede zwischen den Gruppen. Überraschenderweise zeigte sich, dass sowohl Haenyeo als auch andere Einwohner von Jeju genetisch sehr ähnlich sind.
Dies deutet darauf hin, dass sich die genetische Anpassung an das Tauchen nicht nur bei den Taucherinnen selbst, sondern über die gesamte Inselbevölkerung ausgebreitet hat. Es ist wahrscheinlich, dass die häufige und über Generationen weitergegebene Tauchertradition eine natürliche Auslese für bestimmte Gene ausgelöst hat, die Vorteile in dieser Umgebung bieten.Besonders zwei Gene sorgten für Aufsehen in der Forschung. Das erste Gen ist mit der Kältetoleranz verbunden. Obwohl die genauen Mechanismen noch nicht vollständig entschlüsselt sind, könnte dieses Gen den Haenyeo einen verbesserten Schutz vor Hypothermie bieten, einem potenziell tödlichen Zustand, der durch Unterkühlung ausgelöst wird.
Das zweite Gen steht in Zusammenhang mit dem Blutdruck. Da das Tauchen kurzfristig den Blutdruck erhöht, stellt dies vor allem während der Schwangerschaft ein Risiko dar, da Komplikationen wie Präeklampsie auftreten können. Frauen mit einer genetischen Prädisposition für eine bessere Blutdruckregulation waren vermutlich eher in der Lage, erfolgreich Kinder zu gebären und ihre Gene weiterzugeben.Interessanterweise hat Jeju Island eine der niedrigsten Schlaganfall-Sterblichkeitsraten in Südkorea. Schlaganfälle stehen oft in Verbindung mit hohem Blutdruck, weshalb Forscher vermuten, dass die genetischen Anpassungen der Inselbewohner einen Schutzfaktor darstellen könnten.
Diese Vermutung legt nahe, dass die Studien über die Haenyeo nicht nur für die Anthropologie oder die Evolutionsbiologie relevant sind, sondern auch für die moderne Medizin, insbesondere für therapeutische Entwicklungen im Bereich der Kreislauf- und Gefäßgesundheit.Die kulturelle und biologische Einzigartigkeit der Haenyeo zieht auch über die Wissenschaft hinaus großes Interesse auf sich. Ihr Lebensstil spiegelt eine tiefe Verbundenheit mit der Natur und eine nachhaltige Nutzung maritimer Ressourcen wider. Zugleich stehen die Haenyeo jedoch vor Herausforderungen wie dem Rückgang ihrer Zahl und dem Versiegen der Tradition in jüngeren Generationen. Moderne soziale Veränderungen und wirtschaftliche Gegebenheiten führen dazu, dass immer weniger Frauen diesen alten Beruf ergreifen.
Dies macht die Erforschung und Dokumentation ihrer genetischen und kulturellen Besonderheiten umso wertvoller.Internationale Experten loben die Studien aus Südkorea und betonen, wie wichtig solche Forschungen sind, um die Grenzen der menschlichen Anpassungsfähigkeit auszuloten. Durch das Studium extremer Lebensweisen lässt sich besser verstehen, wie der menschliche Körper auf außergewöhnliche Belastungen reagiert und welche genetischen Faktoren eine Rolle spielen. Die Haenyeo sind damit nicht nur ein faszinierendes anthropologisches Phänomen, sondern auch ein wertvolles Forschungsobjekt für die Medizin, insbesondere im Hinblick auf Schutzmechanismen gegen Kälte und Bluthochdruck.Für die Haenyeo selbst war die Rückmeldung der Forscher nach den Untersuchungen ein emotionaler Moment.