Im Nordwesten Vietnams zeigt eine neue Studie eindrucksvoll, wie kleine Wasserkraftprojekte selbst größere Veränderungen in den Lebenswegen ethnischer Gemeinschaften hervorrufen können. Obwohl die Anlagen als „klein“ klassifiziert werden, entfalten sie weitreichende Folgen für Umwelt, Wirtschaft und Kultur der Dörfer, insbesondere in der Gemeinde Bien La. Diese Region, die hauptsächlich von Minderheitengruppen wie den Tay, Hmong, Dao und Kinh bewohnt wird, hat in den letzten Jahren den Bau mehrerer kleiner Wasserkraftwerke erlebt, die sich auf landwirtschaftliche Nutzflächen, Fischbestände und lokale Arbeitsplätze negativ auswirken. Dies führt zu tiefgreifenden sozialen Veränderungen und einer Abwanderung vieler Bewohner in andere Regionen – mit schwerwiegenden Konsequenzen für das kulturelle Gefüge. Ein besonders dramatischer Vorfall ereignete sich im Juni 2019, als eine plötzliche Flut die Felder und Ernten von rund 60 Familien vernichtete.
Die Flut wurde verursacht, als Betreiber des Su Pan 1-Staudamms ohne Vorwarnung die Wasserabflusstore öffneten. Die Folge war eine massive Zerstörung der Lebensgrundlage der Dorfbewohner. Dieser Vorfall machte deutlich, dass selbst kleine Wasserkraftanlagen ein erhebliches Risiko bergen, insbesondere wenn die betroffenen Gemeinschaften nicht beteiligt oder informiert werden. Die ökologischen Auswirkungen sind vielseitig. Die Stauseen und Dämme haben die Flüsse Suoi Hien und Suoi Mai beeinträchtigt, die in Bien La zusammenfließen.
Die Wasserqualität hat deutlich nachgelassen, was zu Wasserknappheit für die Bewässerung führt. Die Fischbestände sind zurückgegangen, was für viele Familien einen Verlust an wichtiger Nahrungsquelle und Einkommen bedeutet. In Interviews berichten Bewohner, dass frühere nächtliche Fischfänge von mehreren Kilogramm inzwischen der Vergangenheit angehören. Diese Entwicklung bringt für die Familie einen doppelten Verlust mit sich: weniger Nahrung und reduzierte Verkaufschancen auf den lokalen Märkten. Auch die landwirtschaftliche Produktion hat unter den Wasserkraftanlagen gelitten.
Vor den Bauten wurden in einigen Haushalten pro Ernte bis zu 200 Säcke Reis eingebracht. Dies sind etwa 15.400 Pfund, die essenzielle Basis für Ernährung und Verkauf. Heute reduziert sich die Ausbeute laut Angaben einiger Betroffener auf weniger als ein Drittel, rund 70 Säcke oder etwa 5.400 Pfund pro Ernte.
Ursache sind Wassermangel, Bodenerosion und der Landverlust durch den Staudammbau. Neben Reis wirken sich die Verluste auch negativ auf den Anbau von Mais und Sojabohnen aus, was die wirtschaftliche Basis der Familien zunehmend gefährdet. Erstaunlicherweise sind die finanziellen Gewinne aus kleinen und mittleren Wasserkraftanlagen in der Region hoch. Die Provinz Lao Cai generiert durch diese Anlagen jährlich rund 185,2 Millionen US-Dollar Einkünfte und plant, die installierte Leistung bis 2030 auf 1800 MW auszubauen. Doch diese monetären Werte kommen nur wenigen zugute.
Rund 92 Prozent der befragten Haushalte gaben an, Einkommensverluste verzeichnet zu haben, sei es durch Anbauausfälle, Rückgänge im Tourismus oder den Verlust traditioneller Produkte. Die ungleiche Verteilung dieser Vorteile und Belastungen führt zu wachsender Unzufriedenheit und sozialen Spannungen innerhalb der Bevölkerung. Viele Dorfbewohner versuchen, sich den Veränderungen anzupassen. Einige Gemeinden in den oberen Regionen haben etwa mit der Zucht von Forellen und Stören begonnen. Diese Aquakultur stellt eine alternative Einkommensquelle dar, ist aber mit hohen Investitionskosten verbunden.
Dies zwingt viele Betroffene zur Aufnahme von Krediten, und aktuell gelingt es nur wenigen Familien wirklich, mit dieser neuen Tätigkeit finanziell unabhängig zu werden. Die finanzielle Belastung und die noch unsicheren Erträge sind für viele eine Belastung, die den ohnehin bestehenden Druck auf Familien und Gemeinschaften erhöht. Eine weitere Schwierigkeit betrifft die Entschädigung für verlorenes Land. Die Vergütungshöhen sind äußerst niedrig und reichen von nur 0,39 bis 0,77 US-Dollar pro Quadratmeter. Diese geringe Kompensation lässt die Verluste nahezu ungesühnt und verstärkt das Gefühl der Ungerechtigkeit.
Bewohner beklagen, dass sie bei den Planungen und bei der Umsetzung der Projekte nicht eingebunden wurden. Die mangelnde Transparenz und der fehlende Dialog mit den Betroffenen verschärfen die sozialen Konflikte zusätzlich. Die Folgen dieser Belastungen gehen über wirtschaftliche Verluste hinaus. Viele Bewohner sehen sich gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und anderswo Arbeit zu suchen. Vor allem jüngere Menschen trifft dies hart, sie stehen vor der Herausforderung, ihr kulturelles Erbe und ihre familiären Bindungen zurückzulassen, um in neuen Regionen für sich und ihre Familien eine Zukunft aufzubauen.
Die traditionelle Lebensweise, die eng mit der Landwirtschaft und der Nutzung natürlicher Ressourcen verbunden ist, schrumpft damit zunehmend. Besonders betroffen sind dabei Frauen. In der Gemeinde Bien La haben sie sich zuvor in der Herstellung traditioneller Textilien und im Anbau der Indigo-Pflanze für die Färbung engagiert. Diese Tätigkeiten sind nicht nur wirtschaftlich wichtig, sondern auch ein Ausdruck kultureller Identität. Der Verlust von landwirtschaftlichen Flächen und der Wandel durch die Wasserkraftwerke zwingen viele Frauen, außerhalb der Gemeinde beispielsweise als Kellnerin oder Handwerkerin zu arbeiten.
Das bedeutet oft lange Arbeitstage und wenig Zeit für die Familie. Gleichzeitig versuchen einige Frauen mit Initiativen wie traditionellen Kochwettbewerben, handwerklichen Aktionen und kulturellen Festen den Zusammenhalt und das Gemeinschaftsgefühl neu zu beleben. Ein weiterer Bericht aus der Region deutet auf weitere Umweltprobleme hin. Einige Wasserkraftprojekte liegen in der Nähe von Nationalparks und sensiblen Waldgebieten. Familien wurden durch Umsiedlungen in diese schützenswerten Ökosysteme gedrängt, was langfristig ökologische Risiken für diese Regionen mit sich bringt.
Gleichzeitig beklagte eine anonyme Quelle das mangelnde Verantwortungsbewusstsein der Betreiberfirmen und das Fehlen einer Einbindung lokaler Interessengruppen bei Planung und Betrieb der Anlagen. Die Herausforderungen für die Gemeinschaften um Bien La sind enorm. Trotz dieser Widrigkeiten gibt es vielversprechende Ansätze für den Erhalt der Kultur und die Stärkung der Resilienz. Die lokalen Frauen engagieren sich aktiv, um traditionelle Handwerke wie das Weben und die Indigo-Färbung lebendig zu halten. Solche Initiativen fördern nicht nur das kulturelle Erbe, sondern auch das Gemeinschaftsgefühl und eröffnen neue Perspektiven im Tourismus und im Verkauf traditioneller Produkte.
Bien La ist ein touristisch attraktiver Ort, und durch das Angebot kultureller Erfahrungen versuchen die Bewohner, trotz der Belastungen durch die Wasserkraftwerke Einnahmen zu erzielen. So transformiert sich die Gemeinde allmählich und sucht Wege, altes Wissen und neue wirtschaftliche Möglichkeiten miteinander zu verbinden. Abschließend zeigt die Studie, dass kleine Wasserkraftwerke in Vietnam trotz ihres Umfangs erhebliche soziale und ökologische Folgen mit sich bringen. Die Erfahrungen der ethnischen Minderheiten in Bien La machen sichtbar, wie wichtig es ist, die Stimmen der lokalen Bevölkerung in Planungsprozesse einzubeziehen und für gerechte Ausgleichsmaßnahmen zu sorgen. Nur so können nachhaltige Entwicklungswege gefunden werden, die den Schutz von Umwelt und Kultur miteinander vereinen.
Die Situation in Bien La steht exemplarisch für viele Regionen, in denen Energiewende und infrastrukturelle Entwicklungen auf Widerstände und Herausforderungen treffen. Internationaler und nationaler Dialog sowie gemeindebasierte Forschungen sind entscheidend, um Wege zu finden, die Bedürfnisse der Menschen und den Schutz der Natur in Einklang zu bringen. In einer Zeit, in der nachhaltige und soziale Verantwortung immer mehr an Bedeutung gewinnen, kann der Blick auf Vietnams kleine Wasserkraftwerke wichtige Impulse für globale Diskussionen liefern.