Seit Herbst letzten Jahres haben wir erhebliche Fortschritte bei KI-Modellen erlebt, die rationale, agentenartige Entscheidungsprozesse durchführen können. Viele hatten daher erwartet, dass sich eine neue Welle von Start-ups entfalten würde, die auf den Fähigkeiten dieser KI-gestützten Entwicklungswerkzeuge basieren. Doch trotz der technologischen Potenziale zeigt sich bislang keine solche Startup-Explosion. Die Landschaft wirkt fast unverändert, und viele Gründer zögern offenbar, vollständig auf die sogenannten "vibe coded" Programmiermethoden zu setzen. Welche Gründe stecken dahinter? Eine zentrale Ursache liegt in den hohen Erwartungen, die mit den neuen KI-Systemen verbunden werden, und der Realität im Softwareentwicklungsprozess.
"Vibe Coding" – ein Begriff, der für eine Art von KI-unterstütztem, fast spielerischem Programmieren steht – wird in der Community oft kritisch betrachtet. Einige Stimmen bezeichnen es sogar als eine Art "Scam". Die Hauptkritik richtet sich auf die mangelnde Robustheit und Wartbarkeit des mit solchen Tools erstellten Codes. Trotz der Automatisierung bleibt die Softwareentwicklung eine komplexe Disziplin, die sorgfältige Planung, Tests und kontinuierliche Pflege erfordert. KI kann beim Schreiben von Code assistieren, aber der menschliche Entwickler wird nicht überflüssig.
Häufig resultieren Anwendungen, die allein auf "vibe coding" beruhen, in sogenannten Slop-Codebasen, die weder ordentliche Testabdeckung noch notwendige Dokumentation besitzen. Das führt zwangsweise zu einem großen technischen Schuldenberg, der später nur schwer abzutragen ist. Start-ups, die auf schnelle Lösungen mit KI bei gleichzeitigem Verzicht auf bewährte Entwicklungsstandards setzen, sehen sich mit langfristigen Wartungsproblemen konfrontiert. Das erschwert sowohl Skalierung als auch nachhaltiges Wachstum. Ein anderer Aspekt ist das Vertrauen innerhalb der Gründergemeinschaft und bei Investoren.
Während KI-Tools bei der Ideenfindung und Prototypentwicklung heute sehr hilfreich sind, bleiben etablierte Venture-Capital-Geber vorsichtig, wenn es um Start-ups geht, die vollständig oder überwiegend auf solchen automatisierten Lösungen basieren. Erfahrung und solides technisches Know-how sind weiterhin entscheidende Faktoren für die Bewertung von Gründungsvorhaben. Darüber hinaus ist der Softwareentwicklungsmarkt tiefgründig und robust. Die Herausforderung, bestehende Systeme zu ersetzen oder neue disruptive Anwendungen zu kreieren, ist enorm. KI kann zwar Prozesse vereinfachen, aber es gibt keine Garantie, dass die resultierenden Produkte marktfähig sind oder langfristig in komplexen Umgebungen bestehen.
Echte Innovation erfordert meist mehr als nur das schnelle Generieren von Code – es braucht ein Verständnis für Nutzerbedürfnisse, Marktbedingungen und technologische Grenzen. Ein weiterer Grund, warum sich der erwartete Start-up-Boom nicht eingestellt hat, könnte in der fehlenden Integration der KI-Tools in etablierte Entwicklungs- und Geschäftspraktiken liegen. Die bislang vorherrschenden Plattformen und Toolchains berücksichtigen vielfach nicht die Besonderheiten von KI-generiertem Code. Ohne die Unterstützung durch ausgewiesene Software-Ingenieure, die das KI-Ergebnis validieren und weiterentwickeln, bleiben Projekte fragmentarisch und anfällig für Fehler. Start-up-Acceleratoren wie Y Combinator beobachten daher genau, wie die sich entwickelnde Rolle der KI in der Produktentwicklung angenommen wird.
Feedback aus den letzten Gründerjahrgängen zeigt, dass viele Teams KI als Werkzeug zur Produktivitätssteigerung nutzen, aber nicht als vollständigen Ersatz für menschliche Expertise. Dies entspricht auch der Meinung vieler Softwareexperten, die betonen, dass KI weder die Kreativität noch das kritische Denken eines erfahrenen Entwicklers ersetzen kann. Aus Sicht der Marktdynamik gibt es auch soziologische und wirtschaftliche Faktoren, die den Einfluss von KI-gestütztem Coding bei Start-ups bremsen. Die Unsicherheit über die Leistung der Technologie, die Angst vor Abhängigkeiten und die fehlende Standardisierung führen dazu, dass viele Gründer lieber auf konventionelle Methoden setzen. Denn der Erfolg eines Start-ups hängt nicht nur von der technischen Effizienz, sondern vor allem von der Kundenakzeptanz und Umsetzung ab.
In der Kombination aus technischer Realität, menschlichem Faktor und Marktanforderungen wird deutlich, warum eine "vibe coded" Revolution im Start-up-Bereich bislang noch ausbleibt. Die Versprechen großartiger KI-gesteuerter Agenten, die autonom Anwendungen entwickeln und managen, sind faszinierend, jedoch befinden wir uns noch im Übergangsstadium. Die Softwareindustrie adaptiert schrittweise diese Technologien, lernt aus den Fehlern und integriert die KI sinnvoll in bewährte Prozesse. Langfristig können KI-gestützte Werkzeuge die Produktentwicklung deutlich effizienter machen und zu einer neuen Generation von innovativen Start-ups führen. Bis dahin bleibt die Notwendigkeit für menschliches Urteilsvermögen, präzise Planung und nachhaltige Softwarequalität unverändert.
Für Gründer bedeutet das, dass die Ergänzung durch KI zwar wertvoll ist, das Fundament des unternehmerischen Erfolgs aber nach wie vor auf klassischem Ingenieursgeist und Geschäftsverständnis beruht. Dies erklärt, warum trotz der bahnbrechenden AI-Fortschritte keine explosionsartige Gründungswelle im Segment der "vibe coded" Start-ups entstanden ist. Die Technologie ist ein Werkzeug und keine Allzwecklösung. Der nächste große Boom wird vielmehr von Start-ups getragen, die KI intelligent in ihre Produktentwicklung integrieren, anstatt sich allein auf sie zu verlassen.