In den dichten Wäldern einer kleinen Insel vor der Küste Panamas haben Wissenschaftler ein bemerkenswertes Verhalten beobachtet, das die bisher bekannten sozialen Dynamiken zwischen verschiedenen Affenarten erheblich in Frage stellt. Eine Gruppe von Kapuzineraffen wurde mehrfach dabei gefilmt, wie sie Jungtiere der Brüllaffen mit sich trugen – ein Verhalten, das Experten als eine Form von „Entführung“ bezeichnen. Diese Entdeckung wirft nicht nur Fragen zur Motivation hinter diesem Verhalten auf, sondern bietet auch einen tiefen Einblick in die komplexen sozialen Interaktionen zwischen Arten in freier Wildbahn. Kapuzineraffen sind bekannt für ihre Intelligenz und ihre Fähigkeit, Werkzeuge zu benutzen, sowie für ihr vielfältiges Verhalten in unterschiedlichen Ökosystemen Mittel- und Südamerikas. Die aktuell entdeckte Verhaltensweise jedoch stellt selbst für erfahrene Verhaltensforscher eine Überraschung dar.
Die Aufnahmen wurden mithilfe von über 80 versteckten Kameras gemacht, die ursprünglich zur Untersuchung des Werkzeuggebrauchs bei diesen Affen installiert worden waren. Dabei fiel den Forschern auf, dass die Kapuzineraffen mehrfach Jungtiere der Brüllaffen auf ihren Rücken trugen und mit ihnen umherliefen. Das Phänomen erstreckt sich über mehrere Monate zwischen 2022 und 2023, in denen mindestens elf Brüllaffenbabys gesehen wurden, wie sie von Kapuzineraffen getragen wurden. Auffällig ist, dass die Aufnahmen die tatsächlichen Entführungen nicht zeigen, was vermuten lässt, dass diese meist hoch in den Baumkronen, also außerhalb des Kamera-Sichtfelds, stattgefunden haben. Die Brüllaffen verbringen den Großteil ihres Lebens hoch oben in den Bäumen, wo sie auch ihre Jungtiere schützen und versorgen.
Die Motive hinter diesem Verhalten bleiben bisher rätselhaft. Typisches Beutefang- oder Futterverhalten kann ausgeschlossen werden, da die Kapuzineraffen die Jungtiere nicht verletzten oder verzehrten. Ebenso wurden keine aggressiven Handlungen dokumentiert, was die Vorstellung einer böswilligen Entführung unwahrscheinlich macht. Die Tatsache, dass sogar Jungtiere der Kapuzineraffen die Brüllaffenbabys trugen, legt nahe, dass hier möglicherweise eine soziale Lernkomponente oder eine Art von Fürsorgeinstinkt im Spiel ist. Ein Erklärungsansatz der Forscher deutet darauf hin, dass das Verhalten mit einer verwirrten oder fehlgeleiteten elterlichen Fürsorge zusammenhängen könnte.
Es ist bekannt, dass viele Primatenarten, darunter sogar Schimpansen oder Gorillas, manchmal tote Jungtiere ihrer Artgenossen tragen und pflegen. Dieses Verhalten wird mit Trauer oder mangelndem Loslassen assoziiert, hat aber auch eine soziale Komponente. Beim derzeitigen Fall könnte sich eine der Kapuzinenmännchen zunächst fürsorglich gegenüber den Brüllaffenjungtieren gezeigt und dieses Verhalten dann von anderen Individuen der Gruppe durch Soziallernen übernommen worden sein. Die Jungtiere der Brüllaffen, die in den Aufnahmen zu sehen sind, sind alle sehr jung und noch nicht entwöhnt, was bedeutet, dass sie Milch von ihren Müttern benötigen. Das Überleben der entführten Babys ist extrem unwahrscheinlich, da sie ohne die Versorgung durch ihre Mütter verhungern könnten.
Dies wurde durch die Tatsache untermauert, dass viele der Babys, die von den Kapuzineraffen getragen wurden, offenbar bereits tot waren oder innerhalb kurzer Zeit verstarben. Über die Evolution und die möglichen Ursachen dieses Verhaltens kann nur spekuliert werden. Es ist denkbar, dass Kapuzineraffen in ihrem Sozialverhalten eine größere Variabilität und Flexibilität zeigen, als bisher angenommen. Das Phänomen könnte eine Art extrovertiertes soziales Experiment innerhalb der Gruppe sein, ein Versuch, elterliche Fähigkeiten zu entwickeln oder aufrechtzuerhalten – besonders bei Jungtieren, die noch nicht ihre eigenen Nachkommen haben. Eine andere Möglichkeit ist, dass der sogenannte „Sozialstress“ oder der Wettbewerb um Ressourcen und Rangpositionen innerhalb der Kapuzinergemeinschaft ein solches Verhalten begünstigt.
Die Ökologen und Verhaltensforscher betonen, dass diese Entdeckungen zeigen, wie wenig wir noch über das Verhalten von Wildtieren und ihre komplexen sozialen Systeme wissen. Besonders in Zeiten, in denen Lebensräume zunehmend von menschlichen Aktivitäten bedroht werden, können solche Beobachtungen dazu beitragen, die Beziehungen und Anpassungsfähigkeit von Wildtieren besser zu verstehen und dadurch effektivere Schutzstrategien zu entwickeln. Die bisherige Forschung dieser Verhaltensweisen zeigt auch, dass innerhalb derselben Art erhebliche Unterschiede in der Gruppendynamik bestehen können. Dass nur eine bestimmte Gruppe von Kapuzineraffen auf dieser Insel das Entführungsverhalten zeigt, ist ein Hinweis darauf, dass kulturelle oder gruppenbezogene Verhaltensmuster eine große Rolle spielen. Dies unterstreicht die Bedeutung der Erforschung von Tierkulturen, also spezifischer Verhaltensweisen, die innerhalb einer Population weitergegeben werden.
Experten aus internationalen Forschungseinrichtungen, darunter das Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie und das Smithsonian Tropical Research Institute, planen bereits weitere Untersuchungen, um die Hintergründe dieser Entführungen zu ergründen. Die Herausforderung besteht dabei auch darin, die Ursache – ob genetisch, sozial oder umweltbedingt – zu isolieren und zu verstehen, wie solche Verhaltensmuster entstehen und sich verbreiten. Darüber hinaus werfen diese Beobachtungen neue Fragen zur Koexistenz verschiedener Primatenarten in denselben Lebensräumen auf. Brüllaffen und Kapuzineraffen leben in enger Nachbarschaft, doch der Umgang miteinander scheint bislang wenig erforscht gewesen zu sein. Die Interaktion erlebt durch das Entführungsphänomen eine dramatische Erweiterung, die möglicherweise neue Einblicke in interspezifische Beziehungen ermöglicht.
Insgesamt zeigt diese Entdeckung, wie wichtig moderne Überwachungstechnologien wie Motorisierte Kameras und Sensortechnik in der Verhaltensforschung sind. Sie erlauben es Wissenschaftlern, seltene und unerwartete Verhaltensweisen aufzudecken, die dem bloßen Auge in freier Natur oft verborgen bleiben. Durch die Kombination von Technologie, Feldforschung und interdisziplinärer Analyse können wir zunehmend komplexere Verhaltensmuster nachvollziehen und besser verstehen. Abschließend bleibt festzuhalten, dass das Verhalten der Kapuzineraffen, Brüllaffenjungtiere zu entführen, nicht nur eine wissenschaftliche Sensation darstellt, sondern auch darauf hinweist, wie dynamisch und anpassungsfähig Tiergesellschaften sein können. Es ist ein Beispiel für die unerschöpfliche Vielfalt der Verhaltensweisen im Tierreich, die uns ständig herausfordern, unsere bisherigen Vorstellungen zu hinterfragen und die Grenzen unseres Wissens zu erweitern.
Es wird spannend sein zu verfolgen, welche weiteren Erkenntnisse zukünftige Forschungen rund um diese außergewöhnlichen Affen bringen werden.