Stickstoff, als das am häufigsten vorkommende Element in unserer Atmosphäre, ist in der Regel als das stabile Molekül N2 bekannt – ein farb- und geruchloses Gas mit einfacher Molekülstruktur. Tatsächlich gibt es keine neutralen, molekularen Stickstoffallotrope jenseits dieser Dihydratverbindung, zumindest bis vor kurzem. Die Vorstellung, dass höherwertige Stickstoffmoleküle, sogenannte Polynitrogene, existieren könnten, ist seit langem ein faszinierendes Thema in der Chemie, insbesondere wegen ihres potenziell enormen Energiegehalts und ihrer umweltfreundlichen Zerfallsprodukte, die primär aus reinem Stickstoff bestehen. Doch ihre extreme Instabilität machte die Herstellung solcher neutralen Moleküle zu einer nahezu unüberwindbaren Herausforderung für Wissenschaftler. Die Synthese und erstmalige Identifikation des neutralen Hexanitrogens C2h-N6 stellen daher eine wegweisende Entwicklung dar, die fundamentale wissenschaftliche Erkenntnisse vertieft und zukünftig die Energietechnik revolutionieren könnte.
Der Schlüssel zum Erfolg der Forschung lag in der Kombination einer innovativen experimentellen Strategie mit aufwendigen theoretischen Analysen. Das Team um Weiyu Qian, Artur Mardyukov und Peter R. Schreiner präsentierte die erste erfolgreiche Vorbereitung von neutralem N6 bei Raumtemperatur. Dieses Molekül wurde im Gasphasenreaktionsprozess zwischen gasförmigem Chlor oder Brom und festem Silberazid (AgN3) gebildet. Durch die anschließende Abscheidung und Einlagerung in Argonmatrizen bei extrem niedrigen Temperaturen von etwa 10 Kelvin konnte das Produkt stabilisiert und spektroskopisch charakterisiert werden.
Neben der Einlagerung in Matrizen wurde N6 auch als reiner Film bei der Temperatur von flüssigem Stickstoff (77 Kelvin) erfolgreich präpariert, was ein ungewöhnliches Maß an Stabilität für solch ein Allotrop beweist. Die Identifikation von C2h-N6 erfolgte vor allem mittels Infrarot- und UV-Vis-Spektroskopie, unterstützt durch Isotopenmarkierung mit dem Stickstoffisotop 15N. Diese Messmethoden spielten eine entscheidende Rolle, da sie die molekulare Struktur und Elektronenverteilung nachwiesen und die Existenz von neutralem N6 eindeutig bestätigten. Die beobachteten Schwingungsfrequenzen und elektronische Übergänge entsprachen sehr genau den Vorhersagen hochauflösender quantenchemischer Berechnungen. Diese theoretischen Analysen wurden mit modernsten Methoden der Elektronendichte- und Bindungsordnungsberechnung durchgeführt und lieferten ein detailliertes Bild der molekularen Geometrie, der Bindungsverhältnisse und der energetischen Stabilität von N6.
Im Gegensatz zu früher postulierten hexatischen Stickstoffmolekülen wie hexazin (einem sechsgliedrigen aromatischen Stickstoffring) besitzt das C2h-N6 eine gestreckte, acyclische Struktur, welche eine trans-Anordnung von zwei Stickstofftriazidgruppen aufweist. Die Bindungslängen sind charakteristisch für Doppel- und Einfachbindungen, was auf eine elektronische Differenzierung innerhalb des Moleküls hindeutet. Dies trägt entscheidend zur kinetischen Stabilität bei, indem sie eine hohe Dissoziationsbarriere gegenüber der Zerlegung in drei N2-Moleküle aufweist. Mit einer berechneten Aktivierungsenergie von nahezu 15 kcal/mol wird N6 als metastabil eingestuft – hoch genug, damit es bei Umgebungstemperatur zumindest für kurze Zeit existieren kann, was durch die experimentelle Fangmethode bei tiefen Temperaturen genutzt wird. Die Studie widerlegt damit die bisher geglaubte extreme Flüchtigkeit neutraler Stickstoffallotrope jenseits von N2.
Das bisher einzige bekannte Beispiel war das N4-Molekül, das im Gaszustand kurzzeitig nachgewiesen werden konnte, dessen Struktur jedoch nicht genauer bestimmt wurde. Die gezielte Synthese von N6 über die Reaktion von AgN3 und Halogenen eröffnet damit erstmals einen praktikablen Weg zur Erzeugung und Untersuchung neutraler Polynitrogene. Diese neue Form des Stickstoffs könnte insbesondere als hochenergetischer Speicherstoff von Bedeutung sein. Die thermodynamische Analyse zeigt, dass die Zerlegung von N6 in drei einfache N2-Moleküle eine enorme Energiemenge freisetzt, die nahezu doppelt so hoch ist wie die von etablierten Sprengstoffen wie TNT und HMX. Zudem weist die Verbindung keine toxischen oder umweltschädlichen Abbauprodukte auf, da der Endstoff lediglich aus harmlosen Stickstoffgasen besteht.
Dies macht N6 zu einem vielversprechenden Kandidaten für zukünftige Energiematerialien, die sowohl leistungsstark als auch ökologisch vertretbar sind. Von technischer Seite stellt die Herstellung von N6 jedoch erhebliche Herausforderungen dar, da Silberazid und Halogenazide hochreaktive und sensible Substanzen sind, die unter Einhaltung strenger Sicherheitsvorkehrungen gehandhabt werden müssen. Der in der Forschung angewandte Prozess erfordert eine präzise Steuerung der Reaktionsbedingungen, um die Bildung und Stabilisierung des fragilen Allotrops zu ermöglichen. Die künftige Skalierung und Anwendung in industriellen Prozessen hängen wesentlich davon ab, wie sich die Herstellungsmethoden weiter optimieren lassen. Die Bedeutung der Kombination aus experimentellen Techniken wie Matrixisolation, Spektroskopie und Isotopenmarkierung mit modernen theoretischen Berechnungen wird in dieser Arbeit besonders deutlich.
Die Dichtefunktionaltheorie, Coupled-Cluster-Rechnungen und Analysen der Elektronendichte erlauben es, bisher unbekannte Moleküle digital zu charakterisieren und deren Eigenschaften vorherzusagen, bevor sie im Labor realisiert werden. Dieses Zusammenspiel von Theorie und Praxis ist wegweisend für die Entwicklung neuer Hochenergiematerialien. Darüber hinaus öffnet die Entdeckung von N6 Wege zur Erforschung weiterer neutraler Polynitrogene mit potenziell noch höherer Energie und Stabilität. Bereits existierende polymere Stickstoffformen unter extremen Druck- und Temperaturbedingungen, wie das kubisch-gauche Stickstoffnetzwerk oder Druck-Stickstoffverbindungen mit cyclischen Strukturen, ergänzen das Bild von Stickstoff als vielseitigem Element jenseits seiner einfachen N2-Form. Die Veröffentlichung dieser Forschungsergebnisse in der renommierten Fachzeitschrift Nature unterstreicht ihre Relevanz für die wissenschaftliche Gemeinschaft.
Mit einem beeindruckenden Zugriffszahlen und internationaler Beachtung stellt das Paper einen Meilenstein in der Chemie dar, der langfristig nicht nur grundlegendes Wissen erweitert, sondern auch praxisbezogene Entwicklungen in der Materialwissenschaft und Energietechnik anstoßen kann. Zukünftige Studien werden sich darauf konzentrieren, die Stabilität und Handhabung von N6 zu verbessern und seine chemische Reaktivität sowie mögliche Derivate zu untersuchen. Auch das Verhalten unter verschiedenen Umweltbedingungen sowie die praktischen Aspekte der Energiegewinnung aus Polynitrogenen bieten ein weites Feld für interdisziplinäre Forschung. Zusammenfassend hat die Synthese und Charakterisierung von Hexanitrogen C2h-N6 nicht nur eine langjährige wissenschaftliche Herausforderung gemeistert, sondern auch einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung nachhaltiger, leistungsfähiger Energiematerialien geleistet. Die Arbeit verdeutlicht zudem, wie präzise experimentelle Methoden mit fortschrittlicher theoretischer Chemie kombiniert werden können, um neue Molekültypen überhaupt erst zugänglich zu machen.
Diese Entwicklung verspricht weitreichende Impulse für die Chemie, Materialienforschung und Energiewirtschaft der Zukunft.