Der Frühling bringt Farbe, Wärme und eine große Freude für Wassersportler und Berufsmaritime gleichermaßen – dennoch lauert in vielen Gewässern eine unterschätzte Gefahr: kaltes Wasser. Trotz steigender Außentemperaturen bleibt die Wassertemperatur Anfang der Saison oft deutlich niedrig und kann lebensbedrohliche Auswirkungen auf die, die mit oder auf dem Wasser unterwegs sind, haben. Die Wahrheit über kaltes Wasser und dessen Auswirkungen wird jedoch häufig missverstanden und führt trotz umfangreicher Forschung und klarer Erkenntnisse immer wieder zu unnötigen Opferzahlen. Mario Vittone, ein erfahrener Experte im Bereich der maritimen Sicherheit und ehemaliger Küstenwächter der USA, beschreibt eindrücklich, wie fatal die Fehleinschätzungen über Kälteimmission tatsächlich sind. Anhand seiner Recherchen und persönlichen Erfahrungen klärt er über eine Reihe von Phasen auf, die der menschliche Körper bei einem Sturz in kaltes Wasser durchlebt – und was dabei wirklich gefährlich ist.
Zentrale Erkenntnis ist, dass es im eigentlichen Sinne nahezu unmöglich ist, alleine durch Unterkühlung (Hypothermie) im Wasser zu sterben, wenn man keine Schwimmhilfe trägt. Dies liegt daran, dass der Körper schon viel früher in der lebensbedrohlichen Situation instinktiv oder aufgrund der Kältebedingungen die Fähigkeit verliert, sich über Wasser zu halten. Die erste und unmittelbar gefährliche Reaktion beim Eintauchen in kaltes Wasser, das meistens Temperaturen unter 10 Grad Celsius aufweist, nennt sich Kaltwasserschock. Hierbei kommt es zu erhöhtem Herzschlag, schnappartigem Atmen, starkem Blutdruckanstieg und unkontrollierten Bewegungen. Diese Phase dauert nur wenige Sekunden bis wenige Minuten, kann allerdings durch unkontrolliertes Einatmen von Wasser oder Panikreaktionen tödlich sein.
Schätzungen zufolge sterben etwa 20 Prozent aller Menschen, die in kaltes Wasser fallen, in den ersten zwei Minuten an diesem Kaltwasserschock. Neben dem Ertrinken kann der Schock bei Personen mit bereits bestehenden Herzproblemen auch zu einem Herzinfarkt führen. Die wichtigste Überlebensregel in dieser Zeit lautet, Ruhe zu bewahren und das Atemmuster zu kontrollieren, um das Einatmen von Wasser zu verhindern. Die zweite Phase nach dem Kaltwasserschock wird als Kälteinkapazitation bezeichnet und beschreibt den Verlust der motorischen Fähigkeiten in den Gliedmaßen. Aufgrund der starken Gefäßverengung in Armen und Beinen durch die Kälte können die Muskeln nicht mehr richtig arbeiten.
Die Folge ist, dass man nicht mehr schwimmen kann und selbst erfahrene Schwimmer binnen kurzer Zeit ihre Fähigkeit verlieren, sich über Wasser zu halten. Bereits nach einer halben Stunde ohne Schwimmhilfe ist das Risiko des Ertrinkens extrem hoch. Interessant ist, dass dieser Prozess viel schneller eintritt als die eigentliche Unterkühlung des Körperkerns. Das bedeutet, viele Menschen ertrinken noch bevor ihre Körperkerntemperatur kritisch absinkt. Gegen diese Phase hilft deshalb nur eins: das Tragen von Schwimmwesten oder anderen Schwimmhilfen, die den Körper über Wasser halten können.
Das verbreitete Argument vieler Freizeitbootfahrer, sie könnten ja schwimmen und bräuchten deshalb keine Schwimmweste, ist hier lebensgefährlich falsch. Wenn das kalte Wasser den Körper außer Kraft setzt, nützt die beste Schwimmtechnik nichts. Die dritte Phase ist die klassische Hypothermie, die erst nach längerer Zeit in kaltem Wasser auftritt und bei der die Körperkerntemperatur so weit absinkt, dass die geistigen und körperlichen Funktionen beeinträchtigt werden bis hin zum Bewusstseinsverlust. Dabei dauert es – entgegen häufig verbreiteter Aussagen – tatsächlich deutlich länger als zehn oder zwanzig Minuten bis dieser Zustand eintritt. Vittone berichtet von eigenen Experimenten, bei denen er in 44 Grad Fahrenheit (ca.
6,7 Grad Celsius) kaltem Wasser eine Stunde verbrachte, ohne klinisch unterkühlt zu sein. Erst nach etwa einer Stunde reduziert sich die Kerntemperatur so signifikant, dass Bewusstlosigkeit droht. Für Such- und Rettungseinsätze ist diese Erkenntnis besonders wichtig, denn sie legt nahe, dass eine Person, die in kaltes Wasser gefallen ist und triebfähig bleibt, im Regelfall länger überlebt als üblicherweise angenommen. Die amerikanische Küstenwache verwendet beispielsweise das sogenannte Cold Exposure Survival Model (CESM), um anhand von Körper- und Umweltfaktoren möglichst genaue Schätzungen der Überlebenszeit zu ermitteln. Obwohl diese Modelle eher optimistisch ausgelegt sind, ist es ratsam, im Ernstfall den angezeigten Zeitraum als Überlebensfenster zu betrachten und nicht als Garantie des baldigen Sterbens.
Ein Aspekt, der oft unterschätzt wird, ist die Phase nach der Bergung aus dem Wasser. Auch wenn es gelingt, die Person vor dem Ertrinken zu retten und initialen medizinischen Zustand zu stabilisieren, bleibt der Körper aufgrund einer verminderten Herzfrequenzvariabilität anfällig für sogenannte „post-rescue collapses“. Dabei kann es zu einem plötzlichen Herzkreislaufversagen kommen, wenn die gerettete Person zu früh wieder aufsteht oder sich zu viel bewegt. Daher sollten Betroffene unbedingt solange liegen bleiben und erst dann aufstehen, wenn medizinisches Personal grünes Licht gibt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der wichtigste Schutz gegen die tödlichen Risiken bei Kälteimmersionen nicht nur in der Vermeidung eines Sturzes ins kalte Wasser besteht, sondern auch im Vorsorgedenken.
Dazu gehört vor allem das unbedingte Tragen von Schwimmhilfen auf Deck, vor allem bei Alaska-Fischern, die eine besonders gefährliche Gruppe darstellen. Statistiken belegen, dass sämtliche Fälle von Tod durch Überbordgehen im Jahr 2005 in Alaska ausschließlich Personen betrafen, die keine Schwimmhilfe trugen. Darüber hinaus sollte die unmittelbare Rettung mit Lebensringen oder anderen Schwimmhilfen vollzogen werden, um den Betroffenen schnellstmöglich an der Wasseroberfläche zu sichern. Die Erkenntnisse von Mario Vittone widerlegen einige langjährige Mythen rund um das Thema kaltes Wasser, wie die angeblich schnelle und sichere Todesfolge durch Hypothermie. Stattdessen richten sie den Blick auf die echten Gefahren: den Kaltwasserschock und die rasch eintretende Motorikeinschränkung, die ohne Schwimmhilfe binnen Minuten zum Ertrinken führen.
Für Booteigentümer, Wassersportler und maritime Profis bedeutet dies, dass das Bewusstsein für diese Gefahren und eine konsequente Sicherheitskultur überlebensnotwendig sind. Weiterbildung durch Informationsangebote wie das sogenannte Cold Water Boot Camp, das wichtige Überlebenstechniken vermittelt, kann Leben retten. Wer sich mit den physiologischen Abläufen und der reale Gefahrenlage bei Kälteimmissionen auseinandersetzt, kann besser vorbereitet sein, um bei einem Notfall besonnen und effektiv zu handeln. Das Wissen um die wahren Gefahren ermöglicht außerdem einen verantwortungsvolleren Umgang mit dem Wasser und schützt vor Fehlentscheidungen, die vermeidbare Tragödien verursachen. Sicheres Verhalten und das Tragen von Schwimmwesten sind die besten Maßnahmen, um die Überlebenschancen deutlich zu erhöhen.
Das kalte Wasser mag tückisch sein, doch mit dem richtigen Wissen und angemessener Ausrüstung verlieren seine tödlichen Folgen ihre unabwendbare Wirkung. Die maritime Gemeinschaft ist daher gut beraten, diese Erkenntnisse breit zu streuen und die Sicherheitsstandards konsequent zu erhöhen. Nur so können Faktoren wie Kaltwasserschock, Kälteinkapazitation und post-rescue collapse effektiv entgegnet und Menschenleben gerettet werden.