In der Geschichte der Technik hat sich ein bemerkenswertes Phänomen immer wieder gezeigt: Mehrfache Erfindungen, also die unabhängige Entstehung ähnlicher oder sogar identischer Ideen und Technologien durch mehrere Erfinder oder Forscher zur gleichen Zeit oder kurz hintereinander. Dieses Phänomen wirft wichtige Fragen auf, wie Innovationen zustande kommen, welche Faktoren dafür verantwortlich sind und welchen Einfluss dies auf den technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt hat. Doch wie häufig sind solche mehrfachen Erfindungen tatsächlich, und was lässt sich daraus ableiten? Die Geschichte kennt viele berühmte Beispiele paralleler Entwicklungen, die das Konzept der Alleinerfindung infrage stellen können. Ein klassischer Fall ist jener von Alexander Graham Bell und Elisha Gray, die beide Ende des 19. Jahrhunderts unabhängig voneinander ein funktionierendes Telefon entwickelten.
Bell reichte seinen Patentantrag nur wenige Stunden vor Gray ein, was zu jahrelangen Rechtsstreitigkeiten führte. Dieses Beispiel zeigt nicht nur, wie knapp und spannend technologische Wettläufe sein können, sondern verdeutlicht auch, dass bedeutende Innovationen in mehreren Köpfen fast gleichzeitig entstehen können. Auch andere bahnbrechende Innovationen entstanden häufig parallel. Thomas Edison und Joseph Swan präsentierten zeitgleich funktionierende Glühbirnen, Jack Kilby und Robert Noyce entwickelten gleichzeitig die ersten integrierten Schaltkreise, und auch die Erfindung des Jettriebwerks wurde unabhängig von Hans von Ohain in Deutschland und Frank Whittle in Großbritannien vorangetrieben. Solche Fälle zeigen, dass technologische Ideen nicht immer das Ergebnis eines einzelnen Genies sind, sondern oft das Ergebnis gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und technologischer Voraussetzungen, die viele Akteure gleichzeitig beeinflussen.
Die Wissenschaft hat sich seit geraumer Zeit mit der Untersuchung solcher Parallelerfindungen beschäftigt. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts dokumentierten Forscher wie William Ogburn und Dorothy Thomas umfangreiche Beispiele mehrfacher Entdeckungen aus verschiedensten Bereichen. Später erweiterte Robert Merton die Liste und zeigte, dass das Phänomen selbst mehrfach entdeckt und beschrieben wurde – ein interessanter Beleg dafür, dass es ein natürlicher Bestandteil des technischen Fortschritts ist. Dennoch bleibt die Frage bestehen: Wie häufig treten solche mehrfachen Erfindungen auf? Verschiedene Studien und Analysen kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Untersuchungen zur Wissenschaftshistorie sprechen von etwa zwei bis drei Prozent gleichzeitiger Entdeckungen in der Forschung, während Schätzungen für praktische Erfindungen eine deutlich höhere Wiedererfindungsrate annehmen – etwa acht Prozent innerhalb eines Jahrzehnts. Andere Daten, beispielsweise aus Patentstreitigkeiten zwischen 1998 und 2014, deuten aber auf eine eher geringe jährliche Rate von unabhängigen Erfindungen von nur 0,02 Prozent hin. Diese Diskrepanz verdeutlicht, wie komplex und schwer erfassbar das Phänomen ist. Um ein klareres Bild zu erhalten, können historische Analysen von bedeutenden technischen Innovationen hilfreich sein. Eine Untersuchung von etwa 190 historischen Erfindungen, die zwischen 1800 und 1970 stattfanden, zeigt, dass mehrfache Erfindungen keineswegs Ausnahmen sind.
Tatsächlich weist mehr als die Hälfte dieser bedeutenden Erfindungen Hinweise darauf auf, dass mehrere Akteure parallel an ähnlichen Lösungen arbeiteten. In vielen Fällen lagen sogar mehrere erfolgreiche oder beinahe erfolgreiche Entwicklungen vor. Die Struktur der Ermittlung beinhaltete verschiedene Kategorien von mehrfachen Erfindungen, angefangen von der bloßen Idee oder Beschreibung eines Konzepts bis hin zu realisierten praktischen Entwicklungen. Ein wichtiger Aspekt bei der Analyse dieser Fälle ist die Unterscheidung, ob die parallelen Erfindungen wirklich unabhängig voneinander entstanden sind oder ob es sich um Ableitungen und Anpassungen bereits existierender Ideen handelt. Historisch betrachtet ist es nicht immer leicht, diese Unabhängigkeit eindeutig nachzuweisen.
Manche Erfinder waren sich möglicherweise der Arbeit anderer bekannt, was dann den Grad der Originalität beeinflusst. Insgesamt zeigen die Daten jedoch, dass viele dieser parallelen Entwicklungen dennoch als unabhängige Versuche betrachtet werden können. Die Anwendungen erstreckten sich zudem über verschiedenste Erfindungskategorien – elektrotechnische Geräte, chemische Prozesse, mechanische Apparate, medizinische Entdeckungen und elektronische Innovationen. Die Analyse des zeitlichen Verlaufs zeigt außerdem, dass die Häufigkeit mehrfacher Erfindungen über die Jahrhunderte hinweg relativ konstant geblieben ist. Obwohl einzelne Jahrzehnte Schwankungen aufweisen, scheint die grundlegende Tendenz stabil zu sein.
Anders ausgedrückt: Die Mechanismen, die unabhängige Innovationen antreiben, sind über die Zeit weitgehend gleich geblieben. Dies kann auf die beständig vorhandenen gesellschaftlichen Herausforderungen, den Stand des technologischen Wissens und die Verfügbarkeit von Ressourcen zurückgeführt werden. Neue technologische Möglichkeiten eröffnen vielen Inventoren ähnliche gedankliche Wege, die dann zu parallelen Entwicklungen führen. Ein weiterer Punkt betrifft die Art des Problems, das gelöst werden soll. Technologisch oder wissenschaftlich relevante Fragestellungen mit hoher praktischer Bedeutung haben oft stärkere Anreize und ziehen mehr Entwickler an – was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass mehrere erfolgreiche Lösungen nebeneinander entstehen.
Ein anschauliches Beispiel ist die Entwicklung von Sicherungslampen für Bergwerke im 19. Jahrhundert, die zahlreiche Tüftler anlockte. Auch die Suche nach einer Methode zur Gewinnung von Ammoniak oder die Verbesserung von Stahllegierungen zeigen ein ähnliches Muster. Dies alles führt zu einem tieferen Verständnis der Innovationsdynamik. Der relativ hohe Anteil mehrfacher Erfindungen lässt darauf schließen, dass viele grundlegende technische Ideen „offensichtlich“ sind oder zumindest naheliegend werden, sobald bestimmte wissenschaftliche oder technologische Voraussetzungen geschaffen sind.
In gewissem Sinne können Erfindungen als Antworten auf drängende Probleme verstanden werden, die sich quasi „aufdrängen“ und von verschiedenen Akteuren fast zeitgleich entdeckt werden. Das hat wichtige Implikationen für das Verständnis technologischer Fortschritte. Wenn die Innovationen stark von individuellen Genies abhingen und historisch sehr kontingent wären, so würde man erwarten, dass mehrfaches Erfinden eher die Ausnahme ist. Stattdessen zeigt die hohe Frequenz mehrfacher Erfindungen, dass technologische Entwicklungen größtenteils durch gesellschaftliche Kräfte und verfügbare Wissensstände bestimmt werden. So entsteht ein realistisches Bild, in dem Erfinder als Empfänger und Übersetzer eines kollektiven Wissens- und Innovationsfeldes gesehen werden können.
Für die heutige Innovationslandschaft bedeutet das auch, dass Konkurrenz und Patentstreitigkeiten häufig nicht nur Ausdruck individueller Rivalitäten sind, sondern Teil eines größeren, komplexen Systems der Wissensvermittlung und -verbreitung. Zudem verweist diese Sichtweise darauf, dass der Fokus nicht ausschließlich auf die Erfindung an sich gelegt werden sollte. Die Qualität, Umsetzung und Vermarktung sowie die Fähigkeit, eine Erfindung weiterzuentwickeln und anzupassen, spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle. Abschließend lässt sich festhalten, dass multiple Erfindungen keineswegs selten sind. Die Entstehung ähnlicher oder gar identischer Ideen in unterschiedlichen Kontexten ist eher die Regel als die Ausnahme, gerade wenn es um bedeutende technologische Fortschritte geht.
Das Verständnis dieses Phänomens hilft, die Prozesse hinter Innovationen besser zu begreifen und unterstreicht die Bedeutung von Perspektiven, die technologische Entwicklungen als kollektive, evolutionäre Prozesse betrachten. Innovative Konzepte sind sozusagen in der Luft – viele bemühen sich darum, sie zu fassen, wenn die Zeit reif ist.