Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbruch, den Künstliche Intelligenz (KI) hervorruft, wird oft als nächste industrielle Revolution beschrieben. Doch während historische Innovationen neue Möglichkeiten schafften, um Ressourcen und Werte zu vermehren, zeichnet sich bei KI ein radikaler Wandel ab, der tief in die Struktur unseres Wirtschaftssystems eingreift. Die traditionelle Auffassung von Kreativität als unendliche Quelle neuer Ideen verliert an Gültigkeit. Stattdessen rückt der Gedanke in den Vordergrund, dass Ideen und Wissen als endlich betrachtet werden sollten – ein Konzept, das an den Merkantilismus erinnert, eine Wirtschaftsordnung, die historisch für das Streben nach begrenzten Reichtümern und Herrschaftssicherung stand. Erleuchtet durch die heutigen Technologien stellt sich die Frage, wie diese „neue Goldrausch“-Phase die old-school Ideen von Kapitalismus und Konkurrenz korrumpiert und umgestaltet.
Die Idee hinter dem Merkantilismus ist simpel, aber folgenreich: Es gibt begrenzte Ressourcen, und es geht darum, diese Ressourcen – seien sie Gold, Land oder Wissen – in den Händen weniger zu konzentrieren. Diese Wirtschaftsweise hat in der Vergangenheit zahllose Konflikte ausgelöst und war Grundlage für Kolonialismus und imperialistische Systeme. Im Zeitalter der KI erleben wir eine Renaissance dieses Prinzips, diesmal jedoch im Kontext von geistigem Eigentum und der „Mine“ der Ideen. Künstliche Intelligenz kann enorme Mengen an Daten und Wissen analysieren, kombinieren und neu formen, was dem digitalen „Wildcatter“ erlaubt, tiefer und schneller als je zuvor in die Reservoirs menschlicher Kreativität einzudringen. Bisher basierte Innovation häufig auf individuellen kreativen Prozessen, die viel Zeit, Ressourcen und persönliches Engagement erforderten.
Künstler, Wissenschaftler oder Unternehmer verbrachten Jahre damit, einzelne Ideen zu entwickeln und zu verfeinern. KI fungiert hier als explosionsartig wirksames Werkzeug, das aus existierenden Ideen und Mustern neue Kombinationen schürft. Diese Kombinationen sind nicht endlos – es gibt eine maximale Anzahl wirklich wertvoller oder marktfähiger Innovationen. Das verändert die Spielregeln: Die Möglichkeit, jeden rentablen Kreationscode aus dem Raum der Ideen zu extrahieren, führt zu einer intrinsischen Knappheit, trotz der scheinbaren Unendlichkeit an möglichen Kombinationen. Dies bringt eine dynamische Rückkehr zur Denkweise des Merkantilismus mit sich, bei der es darum geht, so viele wertvolle Ideen wie möglich zu kontrollieren und zu „bergwerken“.
Die Transformation durch KI setzt jene Unternehmen und Akteure in eine völlig neue Wettbewerbssituation, die Zugang zu den größten Ideengräbern und den besten Technologien zur Analyse und Produktion haben. Wer zuvor nur unübersichtliche Nebel über dem sogenannten „Ideenraum“ sah, kann nun zunehmend klare Sicht erlangen und wertvolle „Diamanten“ aus der digitalen Mine heben. Dies artet schnell in ein Wettrennen um die Monopolisierung geistigen Eigentums aus. Haben einige wenige erst einmal den Großteil dieser Ideen kontrolliert, können sie den Markt dominieren und neuen Wettbewerb verhindern – eine klassische Merkmal von Merkantilismus, der sich auf die Konzentration von Ressourcen stützt. Für das kapitalistische Ideal des freien Marktes mit offenem Ideenaustausch stellt das eine existenzielle Herausforderung dar.
Kapitalismus lebte immer vom Glauben an unbegrenztes Wachstum durch Innovation, das durch Wettbewerb befeuert wurde. Faktisch aber gibt es Grenzen. KI bringt Offenheit und Transparenz – die Halbsichtbarkeit, von der Gewinner und Verlierer gleichermaßen beeinträchtigt sind – nahezu zum Erliegen. Die Spielwiese wird zu einem Schlachtfeld, auf dem die ersten und schnellsten Akteure strategisch wertvolle Ideen einkapseln und damit den Zugang anderer einschränken. Diese Entwicklung wirft auch ethische und gesellschaftspolitische Fragen auf.
Wenn Maschinen zunehmend alle denkbaren Kombinationen und Varianten menschlichen Wissens entschlüsseln und verwerten können, wird die Rolle des Menschen als Schöpfer und Innovator infrage gestellt. Künstler, Schriftsteller, Forscher und Unternehmer drohen zu bloßen Bittstellern bei den Mächtigen der digitalen Welt zu werden, die mit ihren KI-Werkzeugen die meiste Macht und die größten Ideenvorräte kontrollieren. Gleichzeitig steigt die Gefahr von Monopolen und der Beherrschung ganzer Branchen durch eine Handvoll Unternehmen, die sich wie Digital-Söldner an die Spitze der neuen Merkantilisten stellen. Der digitale Merkantilismus zeichnet sich ferner durch eine Kombination aus technologischer und wirtschaftlicher Aggressivität aus. Die alten Handelsimperien bedienten sich einer Mischung aus militärischer Gewalt, Handelsmonopolen und staatlicher Unterstützung, um ihre Macht zu festigen.
Die neuen Königreiche dieser Ära agieren durch digitale Plattformen, Algorithmen und künstliche Intelligenz. Der Wettlauf um geistiges Eigentum und die patentrechtliche Absicherung von KI-erzeugten Innovationen ist vergleichbar mit der kolonialen Aufteilung der Welt im 16. und 17. Jahrhundert. Web 3.
0 und die Blockchain-Technologien könnten versuchen, diesen Trend zu brechen, indem sie Dezentralisierung versprechen. Doch der Artikel „The Last Gold Rush: AI and the New Mercantilism“ stellt heraus, dass gerade durch den hohen Ressourceneinsatz für KI-Infrastrukturen und die Kontrolle großer Datenmengen auch hier neue Oligopole entstehen. Während viele von grenzenloser Kreativität sprechen, entsteht eine Realität, in der das exklusive Eigentum an Informationen und computergestützten Fähigkeiten den Ausschlag gibt. Deshalb ist es kein Zufall, dass bereits heute die größten AI-Unternehmen mit Staatsgeldern oder großen Investitionen ausgestattet sind, um Ressourcen zu sichern und Rivalen auszustechen. Darüber hinaus beschreibt der Artikel eine düstere langfristige Aussicht, die an ein Wirtschaftsmodell erinnert, das weit über den Merkantilismus hinausgeht: Ein modernes Feudalsystem, in dem die Ressourcen vollständig geerntet und verteilt sind und Macht allein auf Kontrolle beruht.
Dieses Szenario wäre gekennzeichnet durch stagnierende Innovation und gesellschaftliche Ungleichheit, da neue Möglichkeiten rar sind und die alten Ressourcen in den Händen weniger konzentriert bleiben. Ein solcher Zustand wäre eine Rückkehr zu einem Zustand, den viele als dunkle Vergangenheit des Kapitalismus ansehen, und könnte das Ende eines freien, innovativen Marktes bedeuten. Unternehmen, die diese Entwicklung antizipieren, handeln bereits, indem sie systematisch bestehendes Wissen und Patente anhäufen, KI nutzen, um im Sekundentakt neue Ideen durchzuprobieren, und die Kontrolle über entscheidende Informationsmonopole anstreben. Diese Strategie ähnelt der Art und Weise, wie einst Handelsimperien strategische Häfen und Ressourcen sicherten. Die Kernbotschaft daraus ist klar: Wer zuerst handelt, sammelt den größten Schatz, und jeder spätere Versuch, aufzuholen, wird zunehmend aussichtslos.
Auf individueller Ebene führt dieser Paradigmenwechsel zu einer neuen Realität. Kreativität wird nicht mehr als romantisches Ideal eines schöpferischen Moments wahrgenommen, sondern als ein Ressourcenmanagement von beschränktem, wenn auch enorm wertvollem Eigentum. Dies stellt die Grundlagen vieler Berufs- und Kunstzweige in Frage. Ebenso verändert sich die Rolle von Innovation in der Gesellschaft: Nicht mehr das Finden neuer Ideen steht im Zentrum, sondern die intelligente Extraktion und Verwertung bewährter Muster und Kombinationen. Das Aufkommen der Künstlichen Intelligenz als ultimatives Werkzeug im Ideenbergbau schreitet mit wachsender Geschwindigkeit voran.