Die National Gallery in London hat im Jahr 2025 ein außergewöhnliches Gemälde erworben, das nicht nur durch seine beeindruckende kunsthistorische Bedeutung, sondern auch aufgrund seiner mysteriösen Herkunft und des unbekannten Künstlers für Schlagzeilen sorgt. Für mehr als 20 Millionen US-Dollar gelangte ein Altargemälde aus den Jahren um 1500-1510 in die Sammlung des renommierten Museums. Das Werk mit dem Titel „Die Jungfrau und das Kind mit den Heiligen Ludwig und Margaretha sowie zwei Engeln“ stammt aus einer europäischen Privatsammlung und bereichert die National Gallery anlässlich ihres zweihundertjährigen Bestehens. Gleichzeitig wirft die Anschaffung spannende Fragen zur Kunstgeschichte und Expertenmeinungen auf und steht im Zentrum eines wahren Rätsels. Das Altargemälde zeigt die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind, flankiert von zwei Heiligen und zwei Engeln, was zunächst eine vertraute biblische und religiöse Szene vermittelt.
Doch bei genauer Betrachtung offenbaren sich unerwartete Details und eine ungewöhnliche Kombination ikonographischer Elemente. Die junge Mutter mit ihrem Sohn sitzt im Zentrum der Komposition, wobei das Jesuskind eine Goldammer festhält – ein Symbol seiner bevorstehenden Leidensgeschichte und seines Martyriums. Die Grenze zwischen Heiligkeit und der Darstellung menschlicher Züge verschwimmt in der Komposition auf faszinierende Weise. Ungewöhnlich ist die Anwesenheit eines schleimigen Drachens, dessen Ausdruck in der Bildwelt nördlicher Europäischer Kunst einzigartig erscheint. Er wird von der Heiligen Margaretha, der Schutzpatronin werdender Mütter, besiegt.
Diese Bilderwelt verbindet christliche Legenden mit einer besonderen künstlerischen Fantasie, die sowohl die religiöse Symbolik als auch spielerische Momente integriert – so etwa ein Engel, der eine seltene mittelalterliche Maultrommel spielt, und ein anderer, der ein Stück Musik hält, dessen Notation heute als bedeutungslos gilt. Die Herkunft des Gemäldes ist durch umfangreiche Forschungen teilweise nachvollziehbar. Es wurde wahrscheinlich von der Familie Blundell erworben, dessen Vorfahren es seit dem 18. Jahrhundert auf dem Lulworth Estate in Dorset bewahrten. Die ursprüngliche Quelle ist vermutlich das städtische Refugium der Abtei Tronchiennes bei Gent in Belgien, wo das Werk bereits im Jahr 1602 registriert wurde.
Da die Panel-Dendrochronologie die Fällung des verwendeten Eichenholzes auf das Jahr 1483 datiert und eine angemessene Trocknungszeit einberechnet, ist ein Schaffenszeitraum um 1500-1510 für wahrscheinlich gehalten. Obwohl die National Gallery heute über technische Untersuchungen, kunsthistorische Analysen und Expertenmeinungen verfügt, konnte bislang kein abschließender Konsens über die Identität des Künstlers erzielt werden. Mehrere Namen wurden spekulativ vorgeschlagen, darunter Jan Gossaert, Aert Ortkens, Jean Hey oder der Meister von Saint Giles. Manche Experten vermuten auch, dass das Werk von einem Anhänger von Hugo van der Goes oder Juan de Flandes stammt. Ein eindeutiger Beweis fehlt jedoch, was den Fall besonders spannend macht.
Die Geschichte zeigt, wie selbst in Zeiten moderner Forschungsmethoden einige Kunstwerke weiterhin ein Mysterium bleiben können. Die Komposition spiegelt Einflüsse weiterer bedeutender Künstler der Zeit wider. Die Anordnung der Figuren und die thematische Gestaltung erinnern an Werke von Jan van Eyck, insbesondere an dessen berühmte Darstellung der Jungfrau mit dem Kanonikus Joris van der Paele aus dem Jahr 1434-1436. Die Verknüpfung künstlerischer Stile und Motive aus den Niederlanden und Frankreich lässt es auch heute noch offen, ob der unbekannte Maler aus den Niederlanden oder dem französischen Raum stammt. Ein weiteres faszinierendes Detail sind die in das Gemälde eingebetteten kleinen Szenen auf den Kapitellen der Säulen, die diverse Geschichten aus dem Alten Testament zeigen.
Dazwischen sind auch ungewöhnliche und selten zu findende Motive zu sehen, darunter eine anstößige Darstellung eines Furzens ausstoßenden Putto. Solche skurrilen Bildmotive sind aus mittelalterlichen Manuskriptbetrieblichen Randzonen bekannt, jedoch kaum aus Gemälden, was die kreative und teils humorvolle Handschrift des Künstlers unterstreicht. Auch bemerkenswert sind die bemalten Nieten auf den Holzstufen vor der zentralen Szene. Einerseits erscheinen sie pragmatisch wenig sinnvoll, da sie Schuhe beschädigen oder Stolperfallen darstellen könnten, doch vermutlich sollen sie als symbolische Anspielung an das Kreuz Christi und das zukünftige Leiden des Jesuskindes gewertet werden – eine subtile Verbindung christlicher Ikonographie mit handwerklicher Maltechnik. Das Forschungsprojekt zur Untersuchung und Konservierung des Altargemäldes war aufwändig.
Gemäß den Angaben des National Gallery-Konservators Larry Keith befindet sich das Werk in überraschend gutem Zustand, was unter Berücksichtigung seines Alters beeindruckend ist. Die Holztafel wurde stabilisiert, lose Farbschichten fixiert und kleinere Schadstellen sorgfältig retuschiert – alles mit reversiblen Methoden, um die Zukunft der Arbeit zu bewahren. Die Finanzierung der 20 Millionen Dollar teuren Anschaffung wurde maßgeblich durch die American Friends of the National Gallery London ermöglicht. Damit wurde ein bedeutendes Signal an die internationale Kunstwelt gesandt: Selbst Werke unbekannter Meister mit außerordentlicher Qualität und historischen Fragen sind von unschätzbarem Wert für öffentliche Sammlungen. Kuratorin Emma Capron betont, dass trotz aller wissenschaftlichen Arbeit die Zuordnung des Altars ein spannendes und offenes Thema bleibt, das hoffentlich durch die künftige Forschung und Interaktion mit der breiten Öffentlichkeit weiter vorangetrieben werden kann.
Die National Gallery präsentiert das Werk erstmals seit 1960 wieder einem breiten Publikum. Die öffentliche Ausstellung des Gemäldes ist seit Mai 2025 im Raum 53 der National Gallery möglich. Dort können Besucher der Ausstellung selbst in die rätselhafte, detailreiche und ikonographisch außergewöhnliche Welt eintauchen. Für Kunstliebhaber, Historiker und Besucher bietet sich die Gelegenheit, ein Stück europäischer Kunstgeschichte zu erleben, das einerseits unverändert vielen Rätseln unterliegt, andererseits aber durch seine Schönheit und Ausdruckskraft beeindruckt. Die Geschichte dieser bemerkenswerten Anschaffung ist ebenfalls ein Beispiel für das Ringen von Museen um herausragende Werke – auch wenn deren Künstler unverzeichnet bleiben.