In der heutigen Zeit erleben wir eine tiefgreifende Transformation der gesellschaftlichen Machtstrukturen, die als „Neue Kontrollgesellschaft“ bezeichnet wird. Dieses Konzept beschreibt eine Entwicklung, in der traditionelle Institutionen wie der Staat, die Medien oder Unternehmen ihre alleinige Kontrolle verlieren und stattdessen komplexe, vernetzte Systeme und Protokolle das soziale und ökonomische Gefüge prägen. Anders als frühere Formen der Kontrolle, die auf klare Hierarchien und Disziplinierung setzten, arbeitet die neue Kontrollgesellschaft mit einer flexibleren, datengesteuerten und kaum sichtbaren Steuerung. Der Wandel wird vor allem durch die fortschreitende Digitalisierung und das universelle Vernetzen aller Lebensbereiche ermöglicht und hat weitreichende Folgen für Individuen, Unternehmen und politische Systeme. Die neue Kontrollgesellschaft steht im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Kontrolle.
Während Nutzer glauben, mehr Wahlmöglichkeiten, mehr Zugang zu Information und mehr Autonomie zu besitzen, werden ihre Entscheidungen und Wünsche gleichzeitig durch komplexe Algorithmen gelenkt und optimiert. Plattformen wie Facebook, TikTok oder Amazon sind nicht bloß Orte der Kommunikation und des Handels, sondern hochentwickelte Protokollgesellschaften, in denen Daten über Nutzerbewegungen, Vorlieben und Verhaltensmuster gesammelt und verarbeitet werden. So entsteht eine maßgeschneiderte Welt, die auf individuelle Wünsche eingeht und diese wiederum kanalisiert. Man spricht hier oft von einer „Kontrolle durch das Angebot“, also der sanften Steuerung durch Informationen, Empfehlungssysteme und Bedarfsweckung, die sich als Freiheit tarnt. Schon lange ist die Idee, dass Macht einfach nur von oben herab ausgeübt wird, nicht mehr hinreichend, um die heutige Wirklichkeit zu erklären.
Der französische Philosoph Gilles Deleuze beschreibt in seiner Analyse der Gesellschaften der Kontrolle den Übergang von starren, abgeschlossenen Systemen – Schulen, Fabriken, Gefängnissen – hin zu einem stetig vernetzten, flüchtigen Regelsystem, das uns ständig steuert und überwacht. Die Technologie verleiht diesem System eine Eigendynamik, die kaum noch einer einzelnen Instanz zuzuordnen ist. Vielmehr entsteht ein kollektives Gebilde, das sich aus zahllosen kommunizierenden Protokollen zusammensetzt. Die Rolle dieser Protokolle ist fundamental. Protokolle sind technische und soziale Standards, die die Art und Weise regulieren, wie verschiedene Dienste, Geräte und Menschen miteinander interagieren.
Sie schaffen ein offenes, skalierbares Netzwerk, in dem Kommunikation und Kooperation nicht durch zentrale Instanzen dirigiert, sondern durch gemeinsame Regeln ermöglicht werden. Ein Paradebeispiel ist das Internetprotokoll TCP/IP, das keine zentrale Steuerung benötigt, sondern es erlaubt, dass unterschiedlichste Computer weltweit miteinander kommunizieren. Amazon hat diese Logik auf den Unternehmensbetrieb übertragen. Mit Jeff Bezos’ berühmtem „Mandat“ wurden alle Teams im Unternehmen angewiesen, ihre Funktionen über klar definierte Schnittstellen bereitzustellen, sodass sämtliche Geschäftseinheiten als eigenständige Services operieren können. Dieses Vorgehen macht das System robust, skalierbar und offen für Innovationen.
Doch genau in dieser Offenheit und Dezentralität liegt auch die Herausforderung. Es gibt keine zentrale Autorität, die für alle Entscheidungen Verantwortung trägt oder für Fehler geradesteht. In komplexen Netzwerkstrukturen verschwinden zuständige Akteure oft im Dickicht der Verflechtungen. Wer haftet, wenn Algorithmen Fehlentscheidungen treffen oder Benutzer in einer von manipulierten Informationen dominierten Welt den Überblick verlieren? Die Verantwortlichkeit löst sich auf; so entstehen sogenannte „Accountability Sinks“, Bereiche ohne klare Verantwortliche. Die neue Kontrollgesellschaft trägt somit eine paradoxale Freiheit in sich.
Wir sind eingeladen, individuelle Wahlentscheidungen zu treffen, doch diese Entscheidungen werden zugleich durch vielfältige gezielte Hinweise, Anpassungsprozesse und algorithmische Optimierungen beeinflusst und gelenkt. Der amerikanische Soziologe Byung-Chul Han beschreibt diese Form der Macht als „Gefallen und Erfüllen wollen“ anstatt Unterdrückung. Sie setzt auf Anreize statt auf Zwang, auf Verlockung statt auf Furcht. Unsere Privatsphäre wird durch Datensammlung stetig durchlöchert, ohne dass wir dies im Alltag bewusst wahrnehmen. Wir trotzen keinem strengen Regiment, sondern bewegen uns in einer Welt, die unser Verhalten unaufhörlich mit Daten spiegelbildlich verfolgt und steuert.
Das führt zu einer gesellschaftlichen Fragmentierung, in der sich unterschiedliche Cluster von Nutzern – Cliquen im weiten sozialen Netz – mehr oder weniger autark bewegen. Plattformen wirken dabei als »Gatekeeper 2.0«, ultrakomplexe Filterblase und Suggestionseinheiten, die uns vermeintlich mit genau dem versorgen, was wir suchen oder brauchen. Allerdings ist der individuelle Geschmack oft nicht mehr wirklich individuell, sondern das Ergebnis einer algorithmisch errechneten Durchschnittsform. Kunstwerke, Filme oder sogar Ladenlokale gleichen sich weltweit an.
Das Internet ist deshalb trotz all seiner Vielfalt auch eine Maschine der Vereinheitlichung. Politisch ist die neue Kontrollgesellschaft ebenso diffus. Die Macht verlagert sich von klassischen Akteuren – Regierungen, Parteien, Medien – zu den sogenannten „Protokoll-Eliten“ im technologischen Bereich, die über die Gestaltung der Netzwerkinfrastrukturen und der Algorithmen entscheiden. Dabei sind diese Protokolle selten neutral. Ihre Designs bevorzugen bestimmte Interessen, Märkte und Werte.
Gleichzeitig entsteht daraus ein Schwarm, der scheinbar anonym und ohne Führung agiert. Virale Phänomene, politische Bewegungen oder auch Desinformationskampagnen haben häufig diesen Charakter, ein komplexes Muster von Interaktionen, bei dem niemand alleine die Kontrolle hat, aber alle am Geschehen beteiligt sind. Diese Schwärme sind aber keineswegs ideologiefrei, sondern bilden oft „kollektive Objekte“ mit emergenten Dynamiken. Die gesellschaftlichen Folgen sind weitreichend. Die neuen Formen der Machtkontrolle sind kaum mehr fassbar und schwer demokratisch zu legitimieren.
Wer kann heute noch nachvollziehen, wie Entscheidungen getroffen werden, wenn Maschinen über soziale Sichtbarkeit, Meinungsbildung oder Kaufoptionen entscheiden? Gleichzeitig entstehen auch neue Räume für zivilgesellschaftliches Engagement, die Chance, Verteilungsfragen offen zu verhandeln oder neue Arten von Demokratie zu erproben, die sich auf die Formen der Protokollgesellschaft einstellen. Doch dazu bedarf es eines grundsätzlichen Umdenkens und neuer Konzepte, wie Freiheit, Selbstbestimmung und politische Teilhabe gestaltet werden können. Die Herausforderung der kommenden Jahre wird sein, diese neuen Kontrollmechanismen transparenter und nachvollziehbarer zu machen. Auch müssen Wege gefunden werden, Verantwortung zurückzugewinnen und die Gefahr zu minimieren, dass die unsichtbaren Protokolle zu einer neuen, undurchsichtigen Machtformation ohne demokratische Kontrolle werden. Es gilt, die sogenannten „Accountability Sinks“ aufzulösen, indem Governance-Modelle und technische Systeme so gestaltet werden, dass immer klar ist, wer zu welchem Zeitpunkt für welche Entscheidungen Verantwortung trägt.