In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit sind Anleger weltweit meist auf der Suche nach Strategien, die ihre Portfolios schützen und zugleich eine solide Rendite ermöglichen. Nach einer Phase, in der überwiegend Value-Werte im Vordergrund standen, sieht Michael Kaiser, Senior Strategist bei Citi, eine bemerkenswerte Wendung im Marktverhalten: Wachstum ist wieder defensiv. Diese Erkenntnis ist besonders relevant angesichts der aktuellen globalen Herausforderungen wie anhaltender Inflation, geopolitischer Spannungen und geldpolitischer Unsicherheiten. Im Fokus steht dabei die Frage, warum Wachstumsaktien sich erneut als sicherer Hafen positionieren und wie Investoren diese Entwicklung für sich nutzen können. Zunächst muss man verstehen, was genau mit „Wachstum ist defensiv“ gemeint ist.
Traditionell galten Wachstumswerte als risikoreicher, denn sie sind oft stark von der künftigen Gewinnerwartung abhängig und reagieren sensibel auf Zinsänderungen und konjunkturelle Schwankungen. Conversely, defensive Werte waren typischerweise defensive Sektoren wie Versorger oder Basiskonsumgüter mit stabilen Gewinnen und geringeren Kursausschlägen. Doch im derzeitigen Umfeld, so Kaiser, gewinnen Wachstumsunternehmen eine defensive Komponente zurück, da sie über nachhaltige Ertragskraft verfügen und sich besser an die aktuelle Volatilität anpassen können. Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung liegt in der sich wandelnden geldpolitischen Landschaft. Nach Jahren mit sehr niedrigen Zinsen und großzügigen Unterstützungsmaßnahmen ziehen die Zentralbanken ihre Zügel an, um eine überhitzte Wirtschaft und Inflation einzudämmen.
Im Ergebnis sind die Zinsniveaus gestiegen, und die Märkte waren nervös. Anfangs wurde daher prognostiziert, dass Value-Titel, die oft als zyklischer gelten, besser abschneiden würden, während Wachstumswerte unter Druck geraten. Doch die Realität zeigt zunehmend, dass besonders hochwertige Wachstumsunternehmen mit starken Bilanzen, robusten Geschäftsmodellen und wachsender Gewinnentwicklung eine defensive Eigenschaft zeigen. Sie bieten nicht nur Wachstumspotenzial, sondern schützen gleichzeitig vor Marktturbulenzen. Zusätzlich wirkt sich die Entwicklung von Innovationszyklen und technologischen Fortschritten auf die Bewertung von Wachstumsaktien aus.
Branchen wie Künstliche Intelligenz, Digitalwirtschaft, erneuerbare Energien oder Biotechnologie erleben einen neuen Schub, da sich Unternehmen in diesen Sektoren als unverzichtbar erweisen. Während steigende Zinsen den Zugang zu billigem Kapital erschweren, fließt verstärkt Kapital in solche Wachstumsunternehmen, die durch Produktinnovationen, Effizienzsteigerungen und Expansion ihre Positionen festigen können. Dies trägt zur defensiven Haltung bei, da Anleger diesen Firmen langfristiges Überlebens- und Wachstumsvermögen attestieren. Ein weiterer relevanter Faktor ist die Verschiebung in der Bewertungsdynamik. Die schwierige globale Konjunktur führt dazu, dass traditionelle Value-Investments unter Druck geraten können, da sie oft stärker von konjunkturellen Auf- und Abschwüngen abhängig sind.
Gleichzeitig erhöhen zunehmende Unsicherheiten die Attraktivität von Geschäftsmodellen mit nachhaltigen Wettbewerbsvorteilen, die oft in Wachstumsunternehmen zu finden sind. Diese Unternehmen zeigen meist eine geringere Ertragsvolatilität und behalten in volatilen Phasen eine solide Gewinnentwicklung bei – Eigenschaften, die Anleger zunehmend als defensiv wahrnehmen. Die Definition von Wachstum hat sich dabei ebenfalls gewandelt. Klassische Wachstumsaktien, wie sie etwa im Technologiesektor dominieren, weisen heute häufig starke Cashflows und gesunde Margen auf. Zudem haben viele dieser Unternehmen ihre Geschäftsmodelle angepasst, um auch in konjunkturell schwierigen Zeiten resilient zu sein.
Hilfreich ist auch die zunehmende Digitalisierung und Automatisierung in vielen Branchen, die es Unternehmen erlauben, Kosten zu senken und neue Marktanteile zu gewinnen, selbst wenn die allgemeine Nachfrage stagniert oder leicht schrumpft. Dies spiegelt sich in der relativen Stabilität der Kurse in Wachstumstiteln wider, die sich – trotz gelegentlicher Korrekturen – langfristig behaupten. Citi-Analyst Kaiser hebt zudem hervor, dass einige Wachstumsunternehmen durch ihre Innovationskraft und Globalität weniger lokal oder regional abhängig sind und dadurch flexibel auf wirtschaftliche Schocks reagieren können. So konnten sie auch jüngste geopolitische und handelspolitische Spannungen besser abfedern als viele klassische Value-Branchen. Die Diversifikation von Einnahmequellen und höhere Preisgestaltungsmacht sind weitere defensive Bausteine.
Für Investoren bedeuten diese Veränderungen in der Marktdynamik, dass eine sorgfältige Auswahl im Wachstumssegment derzeit mehr denn je entscheidend ist. Nicht jedes Wachstum ist automatisch defensiv. Man sollte wachstumsstarke Unternehmen wählen, die finanzielle Solidität aufweisen, von strukturellen Trends profitieren und über ein nachhaltiges Geschäftsmodell verfügen. Das gilt sowohl für Aktien als auch für Wachstumsfonds oder ETFs, die diese Philosophie abbilden. Aus Anlegersicht empfiehlt Kaiser zudem die Bedeutung eines ausgewogenen Portfolios.
Zwar gewinnt Wachstum an defensivem Charakter, dennoch sollten Anleger Risiken streuen und auch weiterhin defensive Klassiker nicht vollständig aus ihren Strategien streichen. Denn bei einer möglichen Zinswende oder Konjunkturabschwächung könnten sich Chancen und Risiken schnell wieder verschieben. Die Fähigkeit, flexibel auf Marktänderungen zu reagieren und Positionen anzupassen, bleibt eine Kernkompetenz erfolgreicher Investoren. Schließlich birgt das Umfeld auch Chancen für langfristige Anleger, die Wachstumswerte mit defensivem Charakter nutzen wollen. Gerade in Phasen wirtschaftlicher Unsicherheit oder erhöhter Volatilität können qualitativ hochwertige Wachstumsunternehmen als Stabilitätsanker wirken und gleichzeitig Wachstumsperspektiven eröffnen.