Während des Zweiten Weltkriegs stand die Menschheit vor der Herausforderung, neue Technologien zu entwickeln, die den Verlauf des Krieges entscheidend verändern könnten. Inmitten fortschreitender technischer Entwicklungen entstand ein außergewöhnliches Forschungsprojekt, das heute kaum noch bekannt ist, jedoch bemerkenswerte Einblicke in die Verbindung zwischen Tierverhalten und Militärtechnik bietet. Dieses Projekt ist unter dem Namen „Projekt Taube“ (Projekt Pigeon) bekannt und wurde von keinem Geringeren als dem berühmten amerikanischen Verhaltenspsychologen B.F. Skinner initiiert.
Es ging darum, Tauben als lebendige, organische Steuereinheiten für gelenkte Bomben auszubilden und einzusetzen. Diese Idee erscheint heute fast surreal, doch damals war sie eine ernsthafte Innovation, um präzisere Zielerfassung und Lenksysteme zu entwickeln. Die Grundlage der Forschung setzte bei Skinners Expertise in der operanten Konditionierung an, einem Lernprinzip, das Verhalten durch Verstärkung beeinflusst. Skinner war überzeugt, dass Tauben, die erstaunliche kognitive Fähigkeiten besitzen, trainiert werden könnten, um optische Zielerkennung durchzuführen und in Echtzeit Kommandos über das Lenksystem einer Bombe zu geben. Ziel war es, die Bomben mithilfe der Tauben zu lenken, indem sie auf ein Bild des Ziels auf einem Bildschirm in der Bombennase pickten und so Kurskorrekturen ermöglichten.
Das Design des Bombenflugkörpers beruhte auf einem unmotorisierten Gleitflugkörper, der ursprünglich vom National Bureau of Standards entwickelt wurde und später auch als Basis für die US Navy's Radar gesteuerte „Bat“ Gleitbombe diente. Im Kopf der Bombe waren drei Linsen verbaut, die das Zielbild auf einen beweglichen Bildschirm innerhalb der Nase projizierten. In einem kleinen abgetrennten Bereich befanden sich ein bis drei Tauben, die durch intensives Training darauf konditioniert wurden, das Ziel auf dem Bildschirm zu erkennen und zu fixieren. Jeweils wenn die Bombe vom Ziel abwich und das Bild auf dem Bildschirm sich vom Zentrum weg bewegte, folgten die Tauben dem Bild, indem sie auf die entsprechende Stelle pickten. Bewegte sich der Bildschirm dadurch auf einem kleinen Achssystems, so konnte die Bombensteuerung per Sensoren Veränderungen erkennen und entsprechende Steuerelemente an den Flügeln oder Leitflächen ansteuern, um die Flugbahn zu korrigieren.
Auf diese Weise sollten die Tauben in Echtzeit für die Kurskontrolle sorgen. Das Training der Tauben war hochgradig spezialisiert und basierte auf Verstärkung mit Futter, wobei die Anzahl der Picks auf das Zielbild als Leistungskriterium diente. Tauben konnten hunderte bis tausende von Picken in kurzer Zeit erbringen, wodurch eine zuverlässige Zielverfolgung möglich wurde. Interessanterweise wurde auch beobachtet, dass wenn mehrere Tauben im gleichen Gehäuse eingesetzt wurden, sie durch einen Mehrheitsentscheid das Ziel auswählten. Falls eine Taube von der Mehrheit anderer abwich, versuchte das System durch Strafen, die sie erlernten, zu korrigieren, sodass der Konsens der Tauben immer auf das Ziel fokussiert war.
Trotz des faszinierenden Ansatzes stieß Projekt Taube auf beträchtlichen Widerstand und Skepsis seitens der Militärbehörden. Die Idee wurde als zu exzentrisch und wenig praktikabel gewertet. Dennoch erhielt Skinner finanzielle Unterstützung durch den National Defense Research Committee, der 25.000 US-Dollar für erste Forschungen bereitstellte. Skinner selbst beklagte wiederholt, dass seine Arbeit nicht die nötige Ernsthaftigkeit erfuhr.
Am 8. Oktober 1944 wurde das Projekt vorerst eingestellt, da das Militär glaubte, dass andere Technologien schneller zum Einsatz kämen und höhere Erfolgschancen besäßen. Nach dem Krieg wurde das Projekt kurz unter dem Namen „Projekt Orcon“ (organische Kontrolle) vom US-Marineamt wieder aufgenommen. Doch als elektronische Zielerkennung und automatische Steuerung immer zuverlässiger und ausgereifter wurden, verlor das Taubenprojekt endgültig an Bedeutung und wurde 1953 komplett eingestellt. Die Technologie mechanischer und später digitaler Steuerung machte auf Dauer lebende Komponenten wie Tauben überflüssig.
Dieses ungewöhnliche Kapitel der Kriegsgeschichte weist auf die engen Verflechtungen von Tierversuchen, Verhaltenspsychologie und militärischer Innovation hin. Skinner, der vor allem als einer der Begründer der Verhaltensforschung bekannt ist, wurde posthum im Jahr 2024 mit dem Ig Nobel Friedenspreis für seine Arbeit an diesem Projekt ausgezeichnet. Seine Tochter Julie Vargas nahm den Preis entgegen und betonte, dass Skinner zwar überwiegend für seine wissenschaftlichen Beiträge zur Psychologie bekannt sei, doch seine Pionierarbeit im Bereich kinetischer organischer Steuerung weitaus unterschätzt werde. Projekt Taube gilt heute nicht nur als kuriose Anekdote des Zweiten Weltkriegs, sondern auch als Beispiel für kreative Problemlösungen in Extremsituationen. Es verdeutlicht, wie Grenzen zwischen Biologie und Technologie verwischt werden können und zeigt gleichzeitig die Herausforderungen und ethischen Fragen, die sich bei der Nutzung von Lebewesen zu militärischen Zwecken stellen.
Der innovative Einsatz von Tauben als lebendige Sensoren erinnert auch an die erstaunliche Intelligenz und den Orientierungssinn der Vögel, die bereits seit Jahrhunderten im Krieg als Nachrichtenüberbringer oder Warnsysteme eingesetzt wurden. Die Lenktechnik, die damals etabliert wurde, gilt als Vorläufer moderner elektronischer und automatischer Zielsysteme in Waffen und Drohnen. Außerdem wirft das Projekt die spannende Frage auf, wie menschliche Vorstellungskraft und wissenschaftliches Wissen kombiniert werden können, um Lösungen für komplexe Probleme zu entwickeln – auch wenn nicht alle resultierenden Technologien am Ende zum Einsatz kommen. Die Geschichte von Projekt Taube bleibt ein besonderer und lehrreicher Teil der Technikhistorie, der die bemerkenswerte Schnittstelle zwischen Psychologie und Militärtechnik beleuchtet. Abschließend lässt sich sagen, dass das Projekt trotz seines Abbruchs ein frühes Beispiel für innovative biologische Steuerungssysteme ist, das Inspiration für spätere Entwicklungen in der Robotik und künstlichen Intelligenz gab.
Die Idee, Tiere als intuitive und flexible Komponenten in technischen Systemen einzusetzen, mag aus heutiger Sicht ungewöhnlich erscheinen, doch zum damaligen Zeitpunkt stellte sie eine der modernsten Formen der Präzisionslenkung dar. Die Geschichte der Taubenlenkbombe zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie neuartige Denkansätze auch dann ihren Wert haben, wenn sie nicht den erwarteten militärischen Erfolg bringen, da sie Impulse für Forschung und Entwicklung setzen, die über das ursprüngliche Einsatzgebiet hinauswirken.