Die Sonne, unser zentraler Stern und lebenswichtige Energiequelle, ist seit jeher Objekt intensiver Forschung gewesen. Dennoch gab es bisher eine gravierende Einschränkung: Alle bisher aufgenommenen Bilder und Studien konzentrierten sich auf die Äquatorregion der Sonne. Das lag an der Geometrie unserer Planetenkonstellation, denn Erde und alle anderen Planeten bewegen sich innerhalb der sogenannten Ekliptikebene, eines flachen Scheibenbereichs um die Sonne herum. Aus diesem Blickwinkel sind die Pole unseres Sterns niemals direkt sichtbar gewesen – bis jetzt. Die Europäische Weltraumorganisation (ESA) hat mit ihrer Solar Orbiter-Mission eine revolutionäre Veränderung im Sonnenstudium eingeleitet.
Der Solar Orbiter wurde so konzipiert, dass er seine Umlaufbahn über die Ekliptikebene hinaus hebt und damit erstmals Aufnahmen der polaren Regionen der Sonne erstellen kann. Im März 2025 gelang es dem Orbiter, erstmals Bilder vom südlichen Sonnenpol zu übermitteln, die mit seinen hochspezialisierten Instrumenten aufgenommen wurden. Diese Aufnahmen sind weit mehr als nur sensationelle Fotos – sie leiten eine neue Ära des Verständnisses über das Verhalten unseres Sterns und seiner magnetischen Eigenschaften ein. Ein zentraler Faktor für die Wichtigkeit dieser Daten ist die Sonne selbst und ihre Rolle im Sonnensystem. Die Aktivität der Sonne, etwa Sonnenflecken, Flares oder koronale Massenauswürfe, wird maßgeblich durch ihr magnetisches Feld bestimmt, das in einem elfsjährigen Zyklus Polaritätswechsel durchläuft.
Bisher war das Verständnis dieses Zyklus insbesondere für die Pole begrenzt, da direkte Beobachtungen fehlten. Die Pole spielen eine Schlüsselrolle beim sogenannten solaren Dynamo, einem Prozess, der den magnetischen Zyklus antreibt. Die bisherige Herausforderung lag darin, dass alle Raumfahrzeuge, die unsere Sonne umrundeten, genau das gleiche Problem hatten: Sie bewegten sich auf Bahnen nahe der Ekliptikebene. Selbst die Ulysses-Mission, die in den 1990er Jahren Pole umkreiste, konnte keine Bilder machen, da ihr Instrumentarium keine Kameras umfasste – ihre Daten basierten auf spektrometrischen und in-situ-Messungen weiter Entfernung. Der Solar Orbiter hingegen wurde mit einer Vielzahl von Instrumenten ausgestattet, die sowohl sichtbares Licht, Ultraviolettstrahlung als auch Spektren zur Analyse der solaren Atmosphäre erfassen können.
Die Polarimetric and Helioseismic Imager (PHI) ist eines dieser Instrumente und ermöglicht das Mapping des magnetischen Feldes der Sonne in sichtbarem Licht. Dieses verblüffende Werkzeug hat gezeigt, dass die Magnetfelder an den südlichen Polregionen der Sonne deutlich komplexer sind als erwartet. Statt einer klaren Polarität finden sich dort unterschiedliche magnetische Polaritäten dicht beieinander – ein scheinbares Chaos. Diese Beobachtung ist von besonderer Bedeutung, da sie kurz vor dem erwarteten Polsprung der Sonne, dem Höhepunkt im elfjährigen Zyklus, gemacht wurde. Während der Phasen mit schwacher Sonnenaktivität dominiert eine einzelne Polarität pro Pol, bei Sonnenmaximum erscheint hingegen dieses komplexe Gefüge.
Ergänzend dazu leistet das Extreme Ultraviolet Imager (EUI) wertvolle Beiträge, indem es die äußere Atmosphäre der Sonne, die Korona, bei extremen Ultraviolettwellenlängen sichtbar macht. Die Korona ist ein faszinierendes physikalisches Phänomen – sie erreicht Temperaturen von bis zu drei Millionen Grad Celsius, deutlich höher als die gut 5600 Grad der Sonnenoberfläche. Dieses Temperaturgefälle wirft Fragen nach dem Energieerhaltungsprozess und den Mechanismen des Wärmetransports auf. Die vom Solar Orbiter gelieferten Daten wollen hier einen entscheidenden Beitrag leisten, indem sie die Dynamik und die Struktur der ultrahotten koronalen Plasmafilamente sichtbar machen. Ein weiteres Instrument, das Spectral Imaging of the Coronal Environment (SPICE), untersucht die Emissionen verschiedener Elemente wie Kohlenstoff, Sauerstoff und Neon in der Sonne und erlaubt Einblicke in die Bewegungen von Plasma und Materie durch die solare Atmosphäre.
Durch Dopplermessungen kann SPICE die Geschwindigkeit und Richtung der Materieströmungen ermitteln, was zur besseren Kartierung der Sonnenwinde und anderer dynamischer Phänomene beiträgt. Diese Analyse hilft auch zu verstehen, wie der Sonnenwind eine riesige Blase namens Heliosphäre bildet, welche das gesamte Sonnensystem umgibt. Neben den physikalischen und magnetischen Erkenntnissen steckt in der Solar Orbiter-Mission ein großes Potenzial für Überraschungen. Wissenschaftler sind sich einig, dass der Blick auf die bisher unbekannten Pole zu Entdeckungen führen wird, die das traditionelle Bild von Sonnenphänomenen erneuern werden. Die Vorstellung, dass an den Polen vortexe und Wirbel ähnlich denen auf Venus oder Saturn entstehen könnten, ist ein Beispiel dafür, wie neue Beobachtungen unser Verständnis erweitern können.
Die Bedeutung dieser Mission liegt nicht nur im wissenschaftlichen Fortschritt, sondern auch im praktischen Nutzen. Die Sonnenaktivität beeinflusst das Weltraumwetter, welches Auswirkungen auf Satelliten, Kommunikationssysteme und sogar Stromnetze auf der Erde haben kann. Ein besseres Verständnis des solaren Magnetfelds und der Vorgänge an den Polen verbessert somit auch die Vorhersagemöglichkeiten für Sonnenstürme und geomagnetische Ereignisse. Die neuen Bilder des südlichen Sonnenpols markieren nur den Anfang der Reise. Der Orbiter wird sich in den nächsten Jahren weiter aus der Ekliptikebene herausbewegen, um Einblicke auf weitere Parts der Pole zu ermöglichen und eine vollständige Karte der solaren magnetischen Tätigkeit zu erstellen.
Die Daten der ersten vollständigen "Pol-zu-Pol"-Umkreisung, die im Februar 2025 begann, werden ab Oktober 2025 auf der Erde eintreffen und weitere Details enthüllen. Diese bahnbrechenden Missionserfolge hätten ohne internationale Zusammenarbeit, insbesondere zwischen ESA und NASA, nicht realisiert werden können. Durch die Kombination von deutscher, britischer, französischer und weiterer Expertise ist es gelungen, Instrumente zu entwickeln, die auf petite Raumsonden wie dem Solar Orbiter hochpräzise wissenschaftliche Erkenntnisse liefern. Letztlich bietet der Blick auf die Sonnenpole damit nicht nur eine Chance für Astronomen und Physiker, sondern auch für die gesamte Menschheit. Er erweitert unser Verständnis des Lebensraums Sonnensystem, zeigt die Zusammenhänge zwischen Sonnenaktivität und Erde auf und bringt uns der Beantwortung fundamentaler Fragen über die Funktionsweise unseres nächstgelegenen Sterns näher.
Die Solar Orbiter-Mission wird als eine der bedeutendsten Sonnenbeobachtungsmissionen der Geschichte in Erinnerung bleiben – als der Moment, in dem die Menschheit erstmals die geheimnisvollen Pole unseres Lebenssterns aus nächster Nähe betrachten konnte.