Stickstoff ist als Hauptbestandteil der Erdatmosphäre in Form von molekularem Stickstoff (N2) allgegenwärtig. Dieses Molekül zeichnet sich durch seine außergewöhnliche Stabilität aus, die auf die starke dreifache Bindung zwischen den beiden Stickstoffatomen zurückzuführen ist. Im Gegensatz zu Kohlenstoff, dessen vielfältige allotrope Formen wie Graphit, Diamant oder Fullerene gut erforscht sind, blieb die Suche nach neutralen Stickstoff-Allotropen jenseits des diatomaren N2 eine nahezu unerreichte Herausforderung. Die extrem instabile Natur potenzieller Mehrfach-Stickstoff-Moleküle erschwerte bislang deren Synthese und Isolierung. Die jüngste Entdeckung des neutralen Stickstoffallotrops Hexanitrogen mit der chemischen Struktur C2h-N6 markiert nun einen Meilenstein in der anorganischen und Energiematerialforschung.
Die visionäre Arbeit, die am Institut für organische Chemie der Justus-Liebig-Universität Gießen entstand, beschreibt erstmals die erfolgreiche Herstellung eines neutralen, molekularen Stickstoffkomplexes, bestehend aus sechs Stickstoffatomen, also Hexanitrogen. Dieser komplexe Molekülverbund ist nicht nur bemerkenswert aufgrund seiner Größe sondern auch wegen seiner unerwarteten Stabilität im Vergleich zu zuvor postulierten Mehrfach-Stickstoffsystemen. Die Synthese basiert auf der gasphasenbasierten Reaktion von Halogengasen wie Chlor (Cl2) oder Brom (Br2) mit festem Silberazid (AgN3). Silberazid ist bereits für seine Rolle als Vorläufer in der Herstellung von polyazidischen Verbindungen bekannt, welche für explosive und energetische Materialforschung von Bedeutung sind. Bei der Reaktion unter reduzierten Druckbedingungen entsteht in situ das Hexanitrogenmolekül, das anschließend durch rasche Abkühlung in Argon-Matrizes bei Temperaturen um 10 Kelvin eingefroren wird.
Die Kryomatrix-Isolation erlaubte eine detaillierte spektroskopische Analyse mittels Infrarot- und UV-Visenspektroskopie, die durch Isotopenmarkierung (unter Verwendung von ^15N) bestätigt wurde und die molekulare Struktur eindeutig belegte. Bemerkenswert ist die Fähigkeit des Hexanitrogens, in reiner Form bei flüssigem Stickstofftemperatur (77 Kelvin) als dünner Film ohne Matrixhülle stabil zu existieren. Dies deutet auf eine unerwartete kinetische Stabilität hin, die weit über das hinausgeht, was für neutrale Stickstoffallotrope bisher angenommen wurde. Die genaue Analyse der Bindungsverhältnisse zeigt, dass die Terminalatome des Moleküls neutral geladen sind, während sich an den inneren Stickstoffatomen geringfügige positive und negative Ladungen finden. Diese Ladungsverteilung begünstigt eine Doppelbindung, vor allem in den äußeren N3-Fragmenten, und eine einfachere Bindung im Zentrum des Moleküls.
Computergestützte Quantenchemie-Methoden wie das Coupled-Cluster-Verfahren (CCSD(T)) in Verbindung mit hochwertigen Basissätzen ermöglichten eine umfassende energetische und elektronische Charakterisierung des Moleküls. Die Berechnungen ergaben, dass das Hexanitrogenmolekül nicht nur ein lokales Minimum auf dem energetischen Potentialflächenprofil darstellt, sondern auch eine relativ hohe Aktivierungsbarriere für die spontane Zerfallreaktion in drei N2-Moleküle aufweist. Diese Barriere beträgt geschätzte 14,8 kcal/mol, was eine für diese Verbindungen ungewöhnliche Lebensdauer selbst bei Raumtemperatur impliziert. Darüber hinaus verhindern quantenmechanische Tunnelprozesse bei Temperaturverringerung die Zerfallsreaktionen, sodass das Molekül bei tiefen Temperaturen kinetisch stabil bleibt. Eine besonders attraktive Eigenschaft des Hexanitrogens ist sein stark exothermer Zerfall in molekularen Stickstoff.
Die thermodynamischen Berechnungen der Standardreaktionsenthalpie bestätigen einen enormen Energiefreisetzungswert von etwa 185 kcal/mol, was pro Gewichtseinheit eine Energieausbeute darstellt, die deutlich höher ist als die von konventionellen Sprengstoffen wie TNT oder HMX. Aufgrund dieser hervorragenden energetischen Eigenschaften gilt Hexanitrogen als vielversprechender Kandidat für künftige Anwendungen in der Speichertechnologie oder als Hochenergiestoff in der Raketentechnik und anderen Bereichen, die leistungsfähige und umweltfreundliche Energiematerialien erfordern. Die experimentelle Bestätigung erfolgte durch eine Kombination von Infrarot-Absorptionsspektren mit unterschiedlichen Isotopenmarkierungen und UV-Vis-Absorptionsspektren, die sehr gut mit theoretischen Vorhersagen übereinstimmten. Die charakteristischen Schwingungsfrequenzen im IR-Bereich sind dabei ein eindeutiger Fingerabdruck des Moleküls. Interessanterweise verschwand das Signal dieser Banden nach Bestrahlung mit Licht bei 436 nm, was die photochemische Zerbrechlichkeit und die Reaktivität des Moleküls unter bestimmten Bedingungen widerspiegelt.
Die Entdeckung des neutralen C2h-N6-Formallotrops bringt nicht nur fundamentale Erkenntnisse über die Chemie einzelner Stickstoffmoleküle, sondern hebt auch die Möglichkeiten hervor, neue hochenergetische Speicherstoffe mit nur einem Element zu entwickeln. Im Vergleich zu anderen mehratomigen Stickstoffspezies, die überwiegend als Ionen oder unter extremen Druck- und Temperaturbedingungen existieren, markiert die Herstellung eines neutralen, metastabilen Hexanitrogens einen Meilenstein auf dem Gebiet der Elementarstoffchemie. Zusätzlich zu den wissenschaftlichen Implikationen unterstreicht diese Arbeit die Bedeutung der Kooperation von experimenteller Matrixisolation sowie hochentwickelter computergestützter Chemie. Die methodische Kombination ermöglicht nicht nur die Identifikation sondern auch die tiefgründige Untersuchung von Molekülen, die traditionell als zu instabil galten, um isoliert zu werden. Das Forschungsprojekt weist weiterhin auf die Herausforderungen der sicheren Handhabung und Synthese explosiver Stickstoffverbindungen hin.
Die Arbeit betont den Umgang mit Silberazid und Halogenaziden unter strengen Sicherheitsvorkehrungen, da diese Substanzen empfindlich gegenüber Wärme, Druck und mechanischer Beanspruchung sind. Diese Vorsichtsmaßnahmen gewährleisten die von der experimentellen Durchführung geforderten Bedingungen, schützen die Forschenden und gewährleisten reproduzierbare Ergebnisse. Die Synthese von Hexanitrogen eröffnet damit auch Zukunftsperspektiven für die Erforschung noch größerer und komplexerer neutraler Stickstoffmoleküle. Wissenschaftler weltweit könnten durch diese Erkenntnisse motiviert werden, alternative Reaktionswege auszuprobieren und neue Methoden zu entwickeln, um bislang theoretisch vorhergesagte, aber experimentell unerreichte Arten zu erzeugen. Es besteht großes Interesse an der weiteren Untersuchung der physikalischen Eigenschaften von Hexanitrogen, insbesondere seiner thermischen Stabilität, mechanischen Eigenschaften im festen Zustand und möglichen katalytischen Verwendungen.
Zudem kann die Erforschung seiner elektronischen Struktur und Reaktivität gegenüber anderen Molekülen neue Anwendungen in der Materialwissenschaft hervorbringen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die experimentelle Herstellung des neutralen Hexanitrogens C2h-N6 die Grenzen unserer chemischen Kenntnisse erweitert und einen neuen Pfad für die Entwicklung von nachhaltigen, umweltfreundlichen Energiematerialien darstellt. Die Kombination von innovativer Synthese, präzisen spektroskopischen Methoden und modernster theoretischer Chemie demonstriert eindrucksvoll, wie interdisziplinäre Forschung neue chemische Welten entdecken kann. Angesichts der potentiellen Energieausbeute und Umweltsicherheit von Hexanitrogen dürfte dieses Molekül in der Zukunft nicht nur für die Grundlagenforschung relevant sein, sondern auch für praktische Anwendungen in der Energiewelt von morgen.