In der heutigen digitalen Welt verschmelzen Technologie und Körper auf immer neue Weise. Besonders im Bereich Wearables – also tragbarer Technologie – entstehen Innovationen, die nicht nur funktionell sind, sondern tiefgreifende Auswirkungen auf Wahrnehmung, Erinnerung und Selbstverständnis haben. Das Projekt Neoteny, entwickelt als Teil des Design for Performance & Interaction Programms an der renommierten Bartlett Faculty of the Built Environment der University College London (UCL), steht exemplarisch für diese neue Generation interaktiver Designs, die weit über traditionelle Nutzungsformen hinausgehen. Neoteny versteht sich dabei als hybrides Objekt zwischen Schmuck und technologischem Wearable, mit dem Ziel, durch die Verknüpfung von Muskelaktivität und personalisierten Duftimpulsen Erinnerungen zu verstärken und sensorische Erfahrungswelten zu erweitern.Das Grundprinzip von Neoteny basiert auf dem Konzept der bio-sensitiven Steuerung: Sensoren erfassen kontinuierlich Muskelaktivitäten und leiten diese als Trigger für die Freisetzung spezifischer, auf den Träger zugeschnittener Dufte.
Diese olfaktorische Komponente dient nicht nur der reinen Stimulierung der Sinne, sondern zielt auf die Schaffung einer synästhetischen Verbindung ab – eine komplexe Verschmelzung verschiedener Wahrnehmungskanäle – zwischen körperlicher Bewegung und Geruchserleben. Die Idee dahinter ist, dass der Körper in seinen laufenden Bewegungsmustern und Muskelaktivitäten als dynamische Erinnerungsschicht fungiert, die durch Gerüche als Verstärker noch intensiver erlebbar und abrufbar wird.Die Bedeutung des Körpers für das Erinnern und die Sinneswahrnehmung wird in Neoteny explizit hervorgehoben. Während viele von uns heute in weitgehend sitzenden und monotonen Bewegungsmustern verharren, ist die natürliche sensorische Rückkopplung, die durch aktive Muskelnutzung entsteht, zunehmend eingeschränkt. Diese Verringerung körperlicher Aktivität hat nicht nur Auswirkungen auf die Gesundheit, sondern auch auf die Art und Weise, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen und Erinnerungen speichern.
Neoteny setzt hier an und will die körperliche Erfahrung durch ungewöhnliche sensorische Verknüpfungen neu gestalten und erweitern.Das Projekt bringt damit auch kritische Perspektiven auf die aktuellen gesellschaftlichen Dynamiken rund um Körper und Geist in den Diskurs ein. In einer Welt, die durch Biopower – der Macht, Körper zu kontrollieren – und Noopower – der Macht, Gedanken zu steuern – geprägt ist, bietet Neoteny eine experimentelle Plattform, um die komplexen Wechselwirkungen dieser Kontrollmechanismen am eigenen Körper zu erforschen. Es wird eine Symbiose zwischen Menschen und technologischem Wearable angestrebt, die nicht einseitig dominierend, sondern potenziell befreiend und bereichernd wirkt.Die technologischen Grundlagen von Neoteny verbinden bioelektrische Muskelmessungen (EMG-Sensoren) mit einer Duftapplikationstechnik, die im Moment der Bewegung abgerufene Gerüche freisetzt.
Dies erfordert einerseits eine präzise und hochsensible Erfassung der Körpersignale und andererseits eine smarte Steuerung des Duftoutputs, damit sich die angebotenen olfaktorischen Stimuli situativ passend anfühlen und nicht überfordernd wirken. Damit wird eine Form des immersiven Wearables geschaffen, das nicht nur beobachtet oder unterstützt, sondern aktiv in den Erlebensprozess eingreift.Die ästhetische Gestaltung von Neoteny ist ebenso bemerkenswert wie seine technische Funktion. Als Schmuckstück konzipiert, schmiegt es sich elegant an den Kopf des Trägers an und strahlt eine Aura von futuristischer Eleganz aus. Dieses Design unterstreicht den Anspruch, Technologie nicht als rein utilitäres Werkzeug zu verstehen, sondern als Ausdruck von Identität, Ästhetik und sozialer Interaktion.
Die Verknüpfung von Schmucktradition mit Hightech schafft einen Brückenschlag zwischen kulturellen Symbolen und moderner Performance.Eine zentrale Frage, die Neoteny aufwirft, ist die nach der Erweiterung des menschlichen Erlebens durch Technologie – ein Thema, das eng mit transhumanistischen Gedanken verbunden ist. Indem Neoteny veranschaulicht, wie technische Systeme als Erweiterung des Körpers nicht nur praktische, sondern auch sinnliche und kognitive Funktionen übernehmen können, regt es zur Reflexion über Chancen und Risiken solcher technologischen Symbiosen an. Inwieweit können und sollen Wearables jenseits der Funktionserfüllung auch emotionale, soziale und psychologische Aspekte beeinflussen? Neoteny liefert hier ein facettenreiches und experimentelles Narrativ.Das Potenzial eines multisensorischen Ansatzes wie in Neoteny liegt vor allem darin, das neuronale Spektrum der Erinnerung aktiv zu erweitern.
Traditionell sind Gerüche eng verbunden mit emotionalen Erinnerungen und können intensive Rückrufe auslösen. Werden diese olfaktorischen Reize gezielt mit körperlichen Bewegungsmustern verknüpft, eröffnen sich neue Wege, Erinnerungen stärker und nachhaltiger in unseren Bewusstseinsraum zu integrieren. Der Einsatz eines Wearables, das auf diese Weise personalisierte sensorische Rückkopplungen bietet, könnte sich als wirkungsvolles Werkzeug in unterschiedlichen Kontexten erweisen – von therapeutischen Anwendungen über Lernunterstützung bis zu künstlerischen Performances.Die interaktive Natur von Neoteny fördert zudem eine neue Bewusstheit für die eigene Körperlichkeit und deren Einfluss auf das Erleben und Erinnern. Indem der Träger unmittelbar die Effekte seiner Bewegungen auf die olfaktorische Umgebung wahrnimmt, entsteht eine Rückkoppelungsschleife, die zur aktiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und seinen Bewegungsmustern einlädt.
Solche Formen der Selbstwahrnehmung sind in einer zunehmend digitalisierten und oft körperfernen Lebenswirklichkeit besonders wertvoll.Auch im Kontext der Nachhaltigkeit und des bewussten Umgangs mit Technologie bietet Neoteny spannende Impulse. Im Gegensatz zu vielen Wearables, die vorrangig Daten sammeln und auswerten, setzt Neoteny auf qualitative Erweiterung der sinnlichen Erfahrung und fordert damit zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Technologie auf. Es ist ein Beispiel für Design, das sich nicht an kurzfristigen Leistungsmetriken orientiert, sondern den Menschen und seine ganzheitlichen Bedürfnisse ins Zentrum stellt.Neoteny ist darüber hinaus ein faszinierendes Beispiel für die Potenziale von interdisziplinärer Forschung und Design.
Es vereint Erkenntnisse aus Neurowissenschaften, Olfaktologie, Design, Technik und Performance Studies und führt diese in einem innovativen tragbaren Objekt zusammen. Die Umsetzung zeugt von einer hohen Sensibilität gegenüber technischen, ästhetischen und sozialen Dimensionen, die Wearable-Technologien heute und zukünftig prägen.Abschließend lässt sich festhalten, dass Neoteny nicht nur ein Wearable ist, sondern ein kulturelles und technisches Experiment, das neue Wege im Verständnis von Körper, Erinnerung und Technologie eröffnet. Durch den multisensorischen Ansatz, der Muskelaktivität und Duft kombiniert, entsteht eine reichhaltige Erfahrungswelt, die körperliches Erleben und Gedächtnis über traditionelle Grenzen hinaus erweitert. Gleichzeitig regt das Projekt wichtige gesellschaftliche Debatten zu Körperkontrolle, Technologieintegration und transhumanistischen Visionen an und zeigt, wie Design als kritisches Werkzeug fungieren kann.
Neoteny steht somit beispielhaft für eine Zukunft, in der Wearables mehr sind als nützliche Gadgets: Sie werden zu persönlichen Begleitern, die Sinne stimulieren, Erinnerungen lebendig halten und neue Formen der Selbstwahrnehmung ermöglichen. Als Forschungs- und Designprojekt an einer führenden Universität verbindet Neoteny akademische Innovation mit künstlerischer Vision und technischen Fortschritt – ein faszinierender Blick auf die Entwicklung interaktiver tragbarer Technologie im 21. Jahrhundert.