Kreativität gilt als eine der wertvollsten Fähigkeiten unserer Zeit – sei es in der Kunst, Wissenschaft oder Wirtschaft. Viele Menschen versuchen daher ständig, ihre Kreativität zu fördern und neue Impulse zu entdecken. Ein eher ungewöhnlicher, aber äußerst wirkungsvoller Weg, um das kreative Denken anzuregen, ist das Lesen von Nachrufen – den kurzen Lebensgeschichten verstorbener Menschen, die weit entfernt von Prominententum oder Sensationsmeldungen meist in einer kleinen Ecke der Tageszeitung erscheinen. Doch warum gerade diese scheinbar unscheinbare Sparte kann zu einem echten Kreativitätsschub führen? Schon seit Jahren hat der renommierte Kreativitätsforscher Keith Sawyer diese oft vernachlässigte Quelle als Schatzkammer für neue Ideen entdeckt. Seine Beobachtung geht weit über das reine Sammeln von Fakten hinaus – durch das Lesen von Nachrufen wird das Gehirn mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Lebenswegen, Berufen, geografischen Hintergründen und Denkweisen konfrontiert.
Diese Vielfalt an scheinbar fremden Konzepten bietet genau die Art von „geistigem Abstand“, die nachweislich Kreativität beflügelt. Die moderne Forschung zeigt, dass kreative Durchbrüche meist aus der Kombination von zwei oder mehr sehr unterschiedlichen Ideen entstehen. Diese Verbindung wird häufig als „remote association“ bezeichnet – eine Form der Fernassoziation. Psychologen wie Sarnoff Mednick konnten bereits in den 1960er Jahren belegen, dass Menschen mit einem breiten, weit verzweigten Gedächtnisnetzwerk leichter scheinbar inkompatible Gedankengänge verknüpfen können. So entstehen nicht nur gewöhnliche Assoziationen wie Tisch und Stuhl, sondern überraschendere Verbindungen wie Tisch und Maus.
Solche unerwarteten Kombinationsmöglichkeiten sind entscheidend, um innovative Lösungen und originelle Kunstwerke hervorzubringen. Noch aktueller sind die Forschungsergebnisse von Yoed Kenett, der zeigt, dass das kreative Potenzial erst dann voll ausgeschöpft wird, wenn das menschliche Gehirn mit einem großen Abstand zwischen zwei Konzepten arbeiten kann. Je weiter auseinander zwei Ideen in einem Konzept-Netzwerk „stehen“, desto origineller und überraschender fällt oftmals deren Verbindung aus. Dies erklärt beispielsweise, warum eine Idee wie Velcro, die aus der Beobachtung einer burrbedeckten Hundepfote entwickelte Klettverschluss-Technologie, als so bahnbrechend gilt. Die Fähigkeit, das biologische Prinzip der Natur für eine ganz neue Verwendung nutzbar zu machen, ist ein Paradebeispiel für kreative Fernassoziation.
Auch die Psychologin Dedre Gentner hat gezeigt, welche Rolle unterschiedliche Arten von Verbindungen spielen. Einerseits gibt es die „Property Mapping“, bei der offensichtliche Eigenschaften wie Farbe, Form oder Größe von einem Konzept auf ein anderes übertragen werden. Diese Art von Assoziationen ist oft noch relativ nah an der ursprünglichen Idee. Andererseits existiert die mächtigere „Structure Mapping“, bei der die zugrunde liegende Relation oder Struktur zweier Konzepte miteinander verknüpft wird – zum Beispiel die Größenrelation eines Ponys zu einem Pferd, übertragen auf die Größe eines Stuhls. Solche abstrakten Verknüpfungen führen zu wesentlich überraschenderen und kreativeren Ergebnissen.
Was hat das nun mit dem Lesen von Nachrufen zu tun? Ganz einfach: Der Nachruf verbindet ganz unterschiedliche Lebenswege, Geschichten und Kontexte an einem Ort. Wer regelmäßig die Nachrufe liest, begegnet automatisch ungewöhnlichen Kombinationen aus Lebensgeschichten von Menschen, die in unterschiedlichsten Bereichen tätig waren oder aus ganz verschiedenen Kulturen stammen. Diese Vielfalt führt das Gehirn aus der Komfortzone bekannter Informationsquellen heraus und zwingt es, neue Verbindungen zu suchen. Der Vorteil dabei: Nachrufe sind im Gegensatz zu gezielten Internetrecherchen oder sozialen Medien oft frei von Filterblasen. Man entdeckt Menschen, von denen man sonst vielleicht nie gehört hätte – etwa eine Frau, die im Bereich religiöser Philosophie in Peru wirkte, ein Erfinder von medizinischen Geräten oder ein Pionier der spanischsprachigen Medien in den USA.
Jede dieser Lebensgeschichten bietet neue Wissensinseln, spannende Details und überraschende Zusammenhänge, die das eigene Wissen erweitern und kreative Assoziationen anstoßen können. Darüber hinaus ist das Lesen von Nachrufen kein reines Aufnehmen von Informationen, sondern regt eine entscheidende Kreativitäts-Komponente an: das Fragenstellen. Warum hat jemand in Mexiko gelebt und spirituelle Bewegungen aus England verfolgt? Wie hat sich ein bestimmtes Fernsehnetzwerk zur Primetime entwickelt? Was brachte einen Unternehmer dazu, Technologien zu erfinden, die später in völlig anderen Branchen genutzt wurden? Schon das Nachdenken über solche Fragen trainiert den Geist, Muster wahrzunehmen und Verbindungen herzustellen – ein Schlüsselprozess für jeden kreativen Menschen. Regelmäßiges Lesen der Nachrufe kann so zu einer inspirierenden täglichen Kreativitätsübung werden. Dabei ist es wichtig, alle enthaltenen Geschichten aufzunehmen, ohne nur nach offensichtlichen Gemeinsamkeiten zu suchen.
Das akkurate und offene Einlassen auf die Vielfalt fördert die Entstehung unerwarteter Einfälle. Auf diese Weise entstehen Denkpfade, die sonst im normalen Alltag selten begangen werden. Keith Sawyer betont außerdem, dass Kreativität kein Zufall, sondern eine tägliche Praxis ist. Der Schlüssel liegt darin, das Gehirn permanent mit neuen, vor allem inhaltlich weit auseinanderliegenden Impulsen zu füttern. Die Gefahr moderner Informationskonsumgewohnheiten besteht darin, sich in bekannten Themenkreisen zu bewegen und sich immer wieder mit ähnlichen Inhalten zu beschäftigen.
Das erzeugt zwar Expertise, behindert aber oft jene Fernassoziationen, die ganz neue Ideen erst ermöglichen. Von besonderem Wert ist dabei auch die emotionale Verbindung, die Nachrufe erzeugen können. Anders als reine Fakten sammeln, erzählen Nachrufe von einem gelebten Leben, von Träumen, Kämpfen und Errungenschaften. Diese Geschichten vermitteln oft Werte und tiefere Prinzipien, die das kreative Denken emotional und intellektuell stimulieren. Zum Beispiel zeigt ein Lebensweg, wie eine Person aus der Kindheit in Peru es trotz vieler Hindernisse in die Medienwelt New Yorks schaffte – das inspiriert dazu, über die eigenen Ziele und Horizonte nachzudenken.
Zusätzlich bieten Nachrufe die Chance, Wissensgebiete zu entdecken, die sich sonst nur selten kreuzen – Genesungstechnologien neben Kulturarbeit, Informatik neben spirituellen Bewegungen. Dieses Aufeinandertreffen verschiedenster Themen wirkt wie ein Katalysator für integratives Denken, das laut aktueller Kreativitätsforschung besonders wertvoll ist. Die Praxis des Nachrufelesens lässt sich im Alltag leicht umsetzen. Es bedarf moderner digitaler Archive oder eine gedruckte Zeitung am Sonntagmorgen. Wichtig ist, die Aufmerksamkeit bewusst auf die kleineren, vielleicht unscheinbar wirkenden Beiträge zu richten, die im Schatten der großen Schlagzeilen oft verborgen bleiben.