In der heutigen komplexen Unternehmenswelt stellt sich oft die Frage, welche Aufgaben Führungskräfte eigentlich konkret erfüllen. Besonders in großen Organisationen mit tausenden Mitarbeitern erscheint die Rolle der obersten Führungsebene auf den ersten Blick undurchschaubar und fast unmöglich zu bewältigen. Wie kann eine einzige Führungskraft mit beispielsweise 8.000 indirekten Mitarbeitern in einem Jahr überhaupt genug Zeit aufbringen, um jedem einzelnen auch nur für ein paar Minuten Aufmerksamkeit zu schenken? Die Antwort darauf erklärt sich aus einem grundlegenden Wandel des Verständnisses der Rolle von Führungskräften, der seit den 1980er Jahren durch Werke wie Andy Groves „High Output Management“ geprägt wird – ein Buch, das bis heute bei der Definition moderner Führungsprinzipien wegweisend ist. Eine der zentralen Erkenntnisse ist, dass sich die eigentliche Aufgabe einer Führungskraft nicht darin erschöpft, strategische Entscheidungen zu treffen, Expertin für jedes Thema zu sein oder gar Konflikte eigenhändig zu lösen.
Vielmehr besteht ihre Hauptverantwortung darin, eine klare Unternehmenskultur und verbindliche Werte zu definieren und diese konsequent durchzusetzen. Führungskräfte fungieren als Garanten dafür, dass Entscheidungen innerhalb der Organisation im Einklang mit diesen Werten getroffen werden. Sie sind nicht notwendigerweise diejenigen, die selbst entscheiden, sondern diejenigen, die die richtigen Leute befähigen, gute Entscheidungen zu treffen, und diese anschließend ratifizieren. In großen Unternehmen, in denen Führungskräfte oft die am wenigsten informierten Personen im Raum sind, ist diese Delegation entscheidend. Die Menschen an den operativen Fronten besitzen das tiefgreifendste Wissen zu spezifischen Themen.
Führungskräfte verhindern so nicht nur Informationsüberforderung, sondern schaffen mit ihrer Rolle als kulturelle Instanz einen strukturierten Rahmen, innerhalb dessen die anderen Führungsebenen eigenverantwortlich handeln können. Ein interessantes Entscheidungsmodell illustriert diese Funktionsweise eindrucksvoll. Bei Konflikten oder Meinungsverschiedenheiten benennt man zuerst die jeweils führenden Personen auf den unterschiedlichen Standpunkten. Anschließend sucht man den niedrigsten gemeinsam übergeordneten Vorgesetzten in der Hierarchie – oft ist das bis zur Spitze der Unternehmensleitung die CEO-Position. In einem Gespräch präsentieren die beiden Führungskräfte dann gemeinsam die von ihnen ausgearbeitete bestmögliche Entscheidung, die anschließend von der übergeordneten Führungskraft ratifiziert wird.
Dieses Verfahren stellt sicher, dass die Verantwortung dort bleibt, wo das Wissen sitzt, und dennoch eine übergeordnete, wertgebundene Instanz den Prozess überwacht und die Einhaltung der Unternehmensprinzipien garantiert. Aber warum braucht es diesen vermeintlich unnötigen Schritt der Ratifikation, wenn die Entscheidung doch schon getroffen wurde? Die Antwort liegt nicht allein in der Formalität, sondern in der Dynamik der Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit. Die Leitungsperson schafft einen klaren Anreiz für beide Seiten, sich nicht nur auf ihren eigenen Vorteil zu konzentrieren, sondern nach dem besten Ergebnis für das gesamte Unternehmen zu streben. Diese externe Bewertung verhindert Machttheater, Vetternwirtschaft und verdeckte politische Spiele, die andernfalls die Entscheidungsprozesse vergiften könnten. In der Praxis wird dieser Prozess jedoch häufig verlassen, was zu verschiedenen typischen Fehlentwicklungen führt.
Wenn Führungskräfte versuchen, alle Entscheidungen selbst zu treffen und diese nach unten durchzudrücken, geraten sie schnell an die Grenzen ihrer Informationskapazität. Folglich sind diese Entscheidungen oft suboptimal und verlieren die notwendige Akzeptanz bei den direkten Mitarbeitern. Zudem schafft dieses Vorgehen eine Umgebung der politischen Einflussnahme und des Gefälligkeitsschmeichelns, die der Effizienz und Transparenz schadet. Setzen sich Führungskräfte hingegen teilweise aus Konflikten heraus und überlassen die Entscheidungsfindung vollständig ihren Untergebenen, ohne diese zu steuern oder zu überwachen, entstehen Machtkämpfe. Die Folge sind Spaltungen innerhalb des Unternehmens, die weder strategisch noch kulturell zielführend sind.
Dies führt zu schlechter Moral, verlorener Fokussierung und letztlich zum schleichenden Verlust von Unternehmensleistung. Eine häufig beobachtete Fehlentwicklung ist auch das Eingreifen von Führungskräften als Schlichter in Form von Stichentscheidungen. Dieser sogenannten ultimativen Entscheidungsfindung fehlt oft die notwendige Sachkenntnis. Diese Art der Einmischung führt nicht nur zu schlechteren Ergebnissen, sondern schwächt auch die Eigenverantwortung der direkt betroffenen Personen, weil diese sich dann stets auf die Führungsebene verlassen, anstatt selbst gründlich zu reflektieren und Kompromisse zu suchen. Der Grundsatz „disagree and commit“ wird in vielen Unternehmen als pragmatische Lösung gehandhabt, doch oft bleibt dabei echtes Commitment aus.
Mitarbeiter stimmen nur scheinbar zu, um Entscheidungsprozesse nicht zu verzögern, was langfristig Misstrauen säen und für unterschwellige Konflikte sorgen kann. Insbesondere wenn Unternehmenswerte wie Geschwindigkeit um jeden Preis gelten, kann dieses Prinzip unter bestimmten Bedingungen funktionieren, doch es bleibt ein zweischneidiges Schwert. Führungskräfte müssen zudem darauf achten, dass die Entscheidungsfindung nicht durch eine zunehmende Anzahl von Beteiligten verwässert wird. Kommt es häufig vor, dass immer mehr Personen in einen Konflikt einbezogen werden, ist dies ein Zeichen dafür, dass die jeweiligen Führungskräfte ihre Verantwortung nicht wahrnehmen. Eine klare Ansage von oben, zurück an die Entscheider, ist in solchen Fällen erforderlich – und wenn sich keine Besserung einstellt, kann dies auch Konsequenzen bis hin zu personellen Veränderungen nach sich ziehen.
Neben der Entscheidungsratifikation ist die konsequente Durchsetzung von Unternehmenskultur und Werten die zweite große Sphäre der Verantwortung von Führungskräften. Wenn Mitarbeiter nicht im Sinne der definierten Werte handeln, sei es durch unethisches Verhalten, politische Spielchen oder mangelnde Konfliktlösung, müssen Führungskräfte sofort eingreifen, korrigieren oder im Extremfall Personal austauschen. Die Durchsetzung dieser Werte erfolgt dabei konsequent auf allen Ebenen der Hierarchie, denn jeder Bereich ist für die Einhaltung seiner Normen mitverantwortlich. Unternehmenswerte zeigen sich besonders während großer, kontroverser Entscheidungen. Eine Führungskraft muss stets prüfen, ob die vorgelegte Entscheidung im Einklang mit der Kultur steht.
Ist dies nicht der Fall, gilt es, dies offen anzusprechen und die Entscheidung in den Prozess zurückzugeben, um eine Nachbesserung zu erwirken. Werte sind keine bloßen Lippenbekenntnisse, sondern werden besonders sichtbar, wenn es schwierig wird. Ein besonders herausfordernder Aspekt ist die Rolle von Führungskräften in der Strategieentwicklung. Entgegen weit verbreiteter Erwartungen ergibt sich aus der Praxis großer Unternehmen, dass selbst der CEO keine effektive Kontrolle über die gesamte Strategie besitzen kann. Dies liegt daran, dass strategische Entscheidungen auf einer Vielzahl komplexer Fakten beruhen, die selbst für die oberste Führungsebene kaum überblickbar sind.
Eine direkte Steuerung auf dieser Ebene führt daher oft zu suboptimalen Ergebnissen. Stattdessen entfaltet die Unternehmenskultur durch die durchgesetzten Werte ihren strategischen Einfluss. Werte wie Kundenzufriedenheit, Umweltbewusstsein oder Innovationsgeschwindigkeit bestimmen, auf welche Art und Weise Mitarbeiter und Führungskräfte Entscheidungen treffen und welche Ergebnisse sie priorisieren. Auf diese Weise entsteht eine Strategie „indirekt“, durch die Zusammenstellung und Einhaltung spezifischer Werte, die das Verhalten und die Prioritäten des gesamten Unternehmens prägen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Früherkennung der Werte und ihrer Festigung in kleinen Unternehmen.
Im Gründungsstadium liegen Strategie und Kultur oft noch im Entstehen und müssen durch Erfahrung und Lernen geformt werden. Gründer und frühe Führungskräfte haben hier die Chance, Werte bewusst aufzubauen, die später im Unternehmen fest verankert sein können. Eine spätere Anpassung der Werte ist dann meist mit großen Umbrüchen und Personalwechseln verbunden, was die Bedeutung der frühzeitigen Werteentwicklung unterstreicht. Strategiewechsel in großen Unternehmen gehen meist mit personellen Veränderungen in der Führungsebene einher, nicht zuletzt weil neue Führungskräfte andere Werte und damit unweigerlich auch andere Strategien einbringen. Dadurch können erhebliche Umwälzungen und Unsicherheiten entstehen, die häufig unterschätzt werden.
Das Verständnis, dass Werte den strategischen Kurs bestimmen, hilft zu erklären, warum solche Veränderungen emotional belastend und komplex sind. Ein fehlendes oder inkonsistentes Wertesystem führt hingegen oft zu einer Atmosphäre politischer Intrigen und kostspieliger Ineffizienz. Hier wird deutlich, wie wichtig es für Unternehmen ist, dass Führungskräfte ihre Rolle als Wertebewahrer ernst nehmen und transparent kommunizieren, warum bestimmte strategische Richtungen eingeschlagen werden – auch wenn diese unangenehm sind. Abschließend lässt sich sagen, dass das Verständnis der Rolle von Führungskräften als kulturelle und wertebasiert entscheidende Personen zentrale Einsichten darüber liefert, wie moderne Organisationen funktionieren. Führungskräfte sind keine allwissenden Entscheider, sondern Lenker des Werterahmens, in dem die Organisation prosperiert.
Dieses Wissen kann Unternehmen dabei helfen, effektive Führungsstrukturen zu etablieren, die sowohl Raum für eigenverantwortliche Entscheidungsfindung lassen als auch eine klare Richtung vorgeben und aufrechterhalten.