In der heutigen digitalen Ära spielt das Internet eine zentrale Rolle bei der Verbreitung von Informationen. Besonders Wikipedia, die größte Online-Enzyklopädie der Welt, hat sich als wichtige Informationsquelle etabliert. Millionen von Menschen greifen täglich auf die Plattform zu, von Schülern und Studenten bis hin zu Fachleuten und Wissenschaftlern. Doch die Frage, inwieweit Wikipedia nicht nur Wissen reflektiert, sondern aktiv die Wissenschaft selbst beeinflusst, ist bislang weniger erforscht worden. Ein wegweisender Forschungsbeitrag mit dem Titel „Science Is Shaped by Wikipedia: Evidence from a Randomized Control Trial“ liefert nun belastbare Erkenntnisse über den direkten Einfluss von Wikipedia auf die wissenschaftliche Literatur und das wissenschaftliche Arbeiten insgesamt.
Die Studie stammt von den Wissenschaftlern Neil C. Thompson und Douglas Hanley vom MIT und der University of Pittsburgh und eröffnet einen faszinierenden Blick auf die Wechselwirkung zwischen populärer Darstellung von Forschungsergebnissen und deren Anwendung in der akademischen Welt. Wikipedia gilt als öffentlich zugängliches Wissensmedium und zeichnet sich durch seine offene Editing-Struktur aus. Bekannt ist das Portal vor allem dafür, komplexe Themen kompakt und verständlich aufzubereiten. Obwohl viele Wissenschaftler in der akademischen Welt skeptisch gegenüber Wikipedia sind, weil die Inhalte prinzipiell von jedem bearbeitet werden können, zeigt die Studie, dass Wikipedia mit seiner Reichweite und Zuverlässigkeit großen Einfluss auf Forschungsergebnisse nimmt.
Die Arbeit belegt, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die auf Wikipedia eingepflegt werden, häufiger in nachfolgenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen zitiert und verwendet werden. Diese Wirkung wurde sowohl in einer groß angelegten Korrelationsanalyse als auch in einem kontrollierten Experiment nachgewiesen. Die erste Analyseform beschrieb eine statistische Verbindung zwischen den Inhalten von über tausend Wikipedia-Artikeln und deren Wirkung auf wissenschaftliche Arbeiten. Diese Beobachtungsstudie ermöglichte den Forschern, Zusammenhänge zwischen der Präsenz neuer wissenschaftlicher Informationen auf Wikipedia und deren verstärkter Nutzung in der Literatur nachzuvollziehen. Dabei zeigte sich ein klares Muster: Je umfassender und aktueller eine Information auf Wikipedia aufbereitet wurde, desto wahrscheinlicher war es, dass Wissenschaftler diese Information übernommen und referenziert haben.
Allerdings konnte in dieser Phase noch nicht zweifelsfrei auf eine Kausalität geschlossen werden. Um die tatsächliche Ursache-Wirkungs-Beziehung zu überprüfen, führten die Autoren ein randomisiertes Kontrollexperiment durch. Dabei wurden gezielt neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu bestimmten Themen in ausgewählten Wikipedia-Artikeln ergänzt, ohne dass die Autoren der wissenschaftlichen Fachliteratur davon wussten. Anschließend wurde untersucht, wie häufig diese neuen Informationen in Folgepublikationen aufgegriffen wurden. Das Ergebnis war beeindruckend: Die Studieninhalte führten zu einem statistisch signifikanten Anstieg der Nutzung in wissenschaftlichen Aufsätzen, gemessen in der Anzahl der Wörter, die sich auf die neuen Inhalte bezogen.
Konkret zeigte sich, dass etwa eines von 300 Wörtern in den behandelten Forschungsartikeln von den ergänzten Wikipedia-Inhalten beeinflusst war. Dies stellt eine starke Evidenz dafür dar, dass Wikipedia nicht nur ein Spiegel der Wissenschaft, sondern auch ein aktiver Treiber wissenschaftlichen Fortschritts ist. Diese Erkenntnisse werfen ein neues Licht auf die Rolle von digitalen Wissensplattformen als öffentliche Güter. Wissenschaftliche Publikationen haben oft beschränkten Zugang durch Paywalls und kostenpflichtige Abonnements, was insbesondere Forschern in weniger gut ausgestatteten Ländern den Zugang erschwert. Demgegenüber ist Wikipedia frei zugänglich und erreicht somit eine breitere Nutzerbasis.
Die Studie betont, dass durch die Verbreitung und Aufbereitung von wissenschaftlichem Wissen auf Wikipedia eine gerechtere Verteilung von Informationsressourcen möglich wird. Dies fördert nicht nur die globale Forschungsgemeinschaft, sondern kann auch den Wissensstand in der Gesellschaft insgesamt heben. Die langfristigen Implikationen dieses Forschungsprojekts sind weitreichend. Zunächst zeigt sich, dass die Investition in gut kuratierte und aktuelle Inhalte auf frei verfügbaren Plattformen ein kosteneffizientes Mittel sein kann, um die wissenschaftliche Produktivität zu steigern. Wissenschaftsorganisationen, Universitäten und Förderinstitutionen könnten davon profitieren, gezielt in die Unterstützung von Wissensplattformen wie Wikipedia zu investieren.
Zudem könnten politische Entscheidungsträger die Bedeutung von Open-Access-Initiativen noch stärker anerkennen, da sie für die Wissensverbreitung und den wissenschaftlichen Fortschritt von essenzieller Bedeutung sind. Darüber hinaus regt die Studie zur Reflexion über die Beziehung zwischen Wissenschaftskommunikation und akademischer Forschung an. Die populärwissenschaftliche Aufbereitung auf Wikipedia erleichtert den Zugang zu komplexem Wissen, fördert das Verständnis und unterstützt somit die Integration von Wissen in neue Forschungsprojekte. Gleichzeitig sollten Wissenschaftler ermutigt werden, aktiv an der Pflege und Verbesserung von Wikipedia-Artikeln mitzuwirken, um die Qualität und Aktualität der Inhalte zu sichern. Diese Verschmelzung von populärwissenschaftlicher Darstellung und akademischer Forschung könnte den traditionellen Wissenschaftsbetrieb ergänzen und neue Formen der Kollaboration ermöglichen.
Insbesondere interdisziplinäre Felder, die auf den Austausch von Wissen über Fachgrenzen hinweg angewiesen sind, könnten hiervon profitieren. In einer zunehmend vernetzten und datengetriebenen Wissenschaftswelt wird der Beitrag von frei zugänglichen Informationskompendien wie Wikipedia an Bedeutung zunehmen. Insgesamt zeigt die Untersuchung „Science Is Shaped by Wikipedia“ auf eindrucksvolle Weise, dass Wikipedia weit mehr ist als nur ein Nachschlagewerk im Internet. Es ist ein aktives Element im wissenschaftlichen Ökosystem, das den Fortschritt maßgeblich mit beeinflusst. Die Studie unterstreicht, wie wichtig es ist, den offenen Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen zu fördern und digitale Wissensplattformen als wichtige Partner im Forschungsprozess zu begreifen.
Für alle, die die Zukunft der Wissenschaft mitgestalten wollen, bietet Wikipedia somit nicht nur eine Inspirationsquelle, sondern auch eine wirksame Plattform für den Wissenstransfer und die Innovationsförderung.