Lazarus Lake, gebürtig Gary Cantrell, gilt als eine außergewöhnliche, ja fast mystische Figur in der Welt des Ultralaufs. Er steht hinter einem Wettkampf, der mehr als nur ein Rennen ist – er ist eine regelrechte Folterprüfung für Körper und Geist, ein Test der Ausdauer, die ihresgleichen sucht. Die Barkley Marathons sind längst eine Legende für sich, ein Mythos des Laufens, der Enthusiasten und Extremsportler aus aller Welt anzieht. Doch was macht diesen Mann und sein Rennen so einzigartig? Warum nennen manche ihn den ‚Leonardo da Vinci des Schmerzes‘? Und warum gibt es nur wenige, die das Qualen-Monument jemals bezwungen haben? Lazarus Lake ist ein Mann voller Gegensätze. Der oft rau wirkende, bärtige Veranstalter mit seinen auffälligen, rot-schwarz karierten Flanellhemden und einer leichten Zigarre im Mund wirkt auf den ersten Blick unscheinbar.
Doch unter dieser Fassade verbirgt sich ein Visionär und Provokateur, der das Konzept von Ausdauer und Grenzerfahrung komplett neu definiert hat. Er hat mit den Barkley Marathons etwas geschaffen, das jeden, der Teil davon sein will, physisch und mental an seine äußersten Grenzen bringt – vielleicht sogar darüber hinaus. Das Rennen findet jährlich in Tennessee rund um das verlassene Brushy Mountain State Penitentiary statt. Die gewaltige, einst mörderische Strafanstalt ist bezeichnend für den Charakter des Laufes. Hier wird nicht nur gelaufen, hier wird gelitten, gefordert, sogar gebrochen und vielleicht am Ende neu definiert.
Der Kurs selbst ist ein Monster, das sich kaum vollständig vermessen lässt. Offiziell wird von rund 100 Meilen gesprochen, was ungefähr 160 Kilometern entspricht. Insider jedoch schätzen die Distanz aufgrund ständiger Kursänderungen und zahlreicher Zusatzgefährdungen auf bis zu 125 Meilen. Diese Strecke ist kein gewöhnlicher Trail. Sie führt durch unwirtliches, dicht bewachsenes Terrain, das von den Cherokee einst als verflucht betrachtet wurde.
Steile Anstiege, oft mehr als ein Dutzend „Monster“-Kletterpartien pro Runde, verschlingen die Läufer. Besonders gefürchtet ist ein Abschnitt, der lapidar „The Bad Thing“ genannt wird – ein steiler Hang mit einem Neigungswinkel von 60 Grad, übersät mit Dornen, Zweigen und schroffen Baumstämmen, der jeden Schritt zum Kampf macht. Wer hier einen Fehler macht, kann mit schweren Verletzungen rechnen. Das Rennen ist in fünf Loops unterteilt, die jeweils von den Läufern eine Seite aus einem Buch als Nachweis ihres Fortschritts einzusammeln verlangen. Insgesamt 13 solcher Seiten – was für die Teilnehmer bedeutet, dass sie das Gelände gleich mehrfach in der Orientierung bezwingen müssen.
Orientierung ist denn auch eine der größten Herausforderungen, denn sicher geführt wird hier niemand. Die Anweisungen sind oft kryptisch, die Karten überaus rudimentär. Verlaufen ist nicht nur möglich, sondern die Norm. Viele Läufer berichten von nächtlichen Erscheinungen, merkwürdigen Geräuschen und dem Gefühl, ständig beobachtet zu werden. All dies trägt zur Atmosphäre dieses einzigartigen Laufes bei und verstärkt die psychische Belastung.
Die Teilnahme an den Barkley Marathons ist keine Selbstverständlichkeit. Wer mitmachen will, muss sich einer kuriosen Bewerbung unterziehen, bei der unter anderem 1,60 Dollar eingeschlossen werden müssen und ein Essay geschrieben wird, warum man den Wahnsinn auf sich nehmen möchte. Nur etwa 40 Läufer werden pro Jahr ausgewählt, die meisten davon erfahren nie den genauen Startzeitpunkt. Laz hält die Zeit geheim, gibt den Start erst kurz vor Beginn mit dem Blasen einer Muschelhorn-Signals bekannt. Von diesem Moment an beginnen für viele 60 Stunden purer Kampf gegen die Natur, den eigenen Körper und den Geist.
Lazarus Lake verkörpert eine eigenwillige Philosophie. Für ihn ist Fairness nicht gleichbedeutend mit Nachsicht oder Schonung. Seiner Ansicht nach lernt der Mensch nur durch Niederlagen und Schmerz wirklich seine Grenzen kennen. „Wenn du nicht scheiterst, wie kannst du wissen, wie weit du wirklich gehen kannst?“, so seine oft zitierte Maxime. Diese Haltung zeigt sich auch in seinem Umgang mit den Läufern, den „Penitents“, „Idioten“ oder „Verrückten“, wie er sie nennt.
Trotz der Härte hat er einen bemerkenswerten Respekt vor dem menschlichen Geist und glaubt an die unglaubliche Kraft, die in fast jedem schlummert. Der Barkley Marathon hat in seiner Geschichte von über 36 Jahren nur 15 Finisher hervorgebracht. Die Zahl verdeutlicht, wie entbehrungsreich und brutal diese Herausforderung ist. Verletzungen wie zerrissene Beine, gebrochene Knochen und anderweitige körperliche Schäden sind keine Seltenheit. Manche Läufer versuchen, mit gebrochenem Körperteil die Strecke zurückzulegen, nur um wenigstens einen Teil der Tortur mitnehmen zu können.
Doch es geht nicht nur um die reine körperliche Belastung. Es ist vor allem die mentale Zähigkeit, die den Ausschlag gibt, ob jemand das Rennen beenden kann. Viele geben angesichts der unvorhersehbaren Widrigkeiten auf, weil es ein innerer Kampf wie kaum ein anderer ist. Die Barkley Marathons gelten neben den härtesten Ultramarathons der Welt als das ultimative Symbol der Ausdauer extrem. Sie sind somit auch eine Passion für Lazarus Lake, der damit der ultralangen Herausforderung eine neue Dimension verliehen hat.
Mit seiner Kreativität, die von konventionellen Rennen abweicht, schafft er verschiedene Formen von Herausforderungen. Neben den Barkley Marathons initiierte er auch andere außergewöhnliche Events, bei denen teils Tourbusse, ungewöhnliche Startorte und bizarre Regeln zum Einsatz kommen. Das führt dazu, dass Laz zu einem Kurator der Schmerz- und Grenzerfahrung geworden ist – einer, der Rennen nicht nur als Sport versteht, sondern als Prüfung der menschlichen Psyche, als eine Art künstlerische Performance, bei der jeder Läufer seine eigene Geschichte zwischen Triumph und Niederlage schreibt. Er bezeichnet sich selbst als jemanden, der gut schlafen und gut pinkeln kann – eine lakonische Selbstaussage, die kaum erahnen lässt, wie komplex und tiefgründig sein Verständnis von Extremsport ist. Sein Werk steht in starkem Kontrast zu den kommerzialisierten Massenveranstaltungen in der heutigen Wettkampfwelt.
Es ist ein ruhiges, fast schattenhaftes Gegenbild. Trotz – oder gerade wegen – der Kargheit und Härte zieht der Barkley Marathon regelmäßig die weltbesten Trailläufer an und genießt eine Kultstellung, die in keiner anderen Disziplin ihresgleichen findet. Die Läufer, Fans und Medien, die sich mit dem Barkley abgeben, scheinen Teil eines geheimen Clubs zu sein, dessen Eintritt nur den Unterfundenen gewährt wird. Bewunderung und Furcht, Respekt und Verachtung liegen bei Lazarus Lake und seinen Rennen oft eng beieinander. Manche nennen ihn einen „bearded saint“, andere einen „diabolischen Gentleman“.
Doch allen gemeinsam ist die Anerkennung seiner Fähigkeit, den auf den ersten Blick zerstörerischen Schmerz in etwas Größeres zu verwandeln. Seine Philosophie und sein kompromissloses Konzept eröffnen eine neue Sicht auf menschliche Leistungsfähigkeit, die gerade im Limitationen-bewussten Leistungssport bisher kaum gewürdigt wurde. Seine Läufe sind ein lebendiges Beispiel dafür, wie Sport mehr sein kann als Wettbewerb. Sie sind ein Spiegel unseres Lebens – ein ewiges Auf und Ab, bestehend aus Leiden und Durchhaltevermögen, Hoffnung und Verzweiflung. Lazarus Lake fordert die Athleten auf, ihre festen Grenzen zu hinterfragen und dabei vielleicht uns alle daran zu erinnern, wie viel mehr der menschliche Geist vermag, wenn er nur richtig angestachelt wird.
Im Zeitalter der technischen Hilfsmittel und leichten Zugänglichkeit zu Sportveranstaltungen wirkt der Barkley Marathon wie eine Rückkehr zur Urform des wahren Überlebens und Kämpfens gegen innere und äußere Widrigkeiten. Für Lazarus Lake geht es nicht um Siegerlisten oder Rekorde, sondern um die existenzielle Erfahrung, das Ringen mit sich selbst in seiner härtesten Form. So bleibt der Barkley Marathon ein faszinierendes Mysterium, eine Herausforderung, die nur wenige wahrhaft bewältigen können – und Lazarus Lake ein Mann, der bis heute als charismatischer Meister des Schmerzes und seiner widerstrebenden Schönheit in der Extremsportwelt Anerkennung findet.