Multiple Sklerose (MS) gilt als eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die normalerweise bei Erwachsenen diagnostiziert wird. Doch immer mehr Studien richten ihren Fokus auf eine andere, weniger bekannte Gruppe – Kinder und Jugendliche, die an MS leiden. Eine bahnbrechende Untersuchung von Wissenschaftlern der University of California San Diego hat nun gezeigt, dass junge Menschen mit MS nicht nur mit den Symptomen kämpfen, sondern auch auf zellulärer Ebene schneller altern als ihre gesunden Altersgenossen. Diese beschleunigte biologische Alterung könnte wichtige Auswirkungen auf den Krankheitsverlauf und zukünftige Behandlungsstrategien haben. Die Erkenntnisse eröffnen neue Perspektiven, wie MS bei Kindern besser verstanden und behandelt werden kann.
Die Studie ging über die traditionellen Sichtweisen hinaus, die MS hauptsächlich als eine immunologische Erkrankung betrachten. Sie untersuchte die epigenetische Alterung, ein Begriff, der beschreibt, wie sehr sich die DNA-Regionen durch chemische Veränderungen im Laufe der Zeit anpassen und damit das tatsächliche biologische Alter widerspiegeln können, das manchmal erheblich vom chronologischen Alter abweicht. Mithilfe sogenannter epigenetischer Uhren analysierten die Forscher Blutproben von 125 Kindern mit MS und 145 gesunden Kindern und fanden alarmierende Unterschiede. Die jungen MS-Patienten zeigten DNA-Muster, die auf ein um bis zu zwei Jahre beschleunigtes biologisches Altern hindeuteten, obwohl ihr durchschnittliches chronologisches Alter lediglich bei 15 Jahren lag. Diese Form der Alterung ist keine rein optische Erscheinung, sondern bedeutet, dass im Körper der betroffenen Kinder mehr zellulärer Stress und beschädigte Strukturen vorliegen.
Solche Veränderungen können das Risiko erhöhen, dass die Krankheit schneller fortschreitet und komplexer wird. Die Forschenden wiesen darauf hin, dass diese vorzeitige Alterung frühzeitig beginnt, oft bevor klinisch erkennbare Verschlechterungen oder weitere Komplikationen auftreten. Die Erkenntnis, dass MS in jungen Jahren bereits den biologischen Alterungsprozess beeinflusst, hat das Potenzial erhebliche Auswirkungen auf die Behandlung von MS-Patienten in der gesamten Altersgruppe. Biologische Alterung wird von Umweltfaktoren, genetischer Disposition und Lebensstil beeinflusst. Bei Kindern mit MS kommen jedoch zusätzliche krankheitsspezifische Faktoren wie chronische Entzündungen und eine überaktive Immunantwort hinzu.
Diese Belastungen könnten den Alterungsprozess auf zellulärer Ebene katalysieren und die bisherige Annahme in Frage stellen, dass Krankheitsschübe und Progression bei MS hauptsächlich erst im Erwachsenenalter beschleunigt stattfinden. Die Forschung betont die Rolle von sogenannten DNA-Methylierungsmustern als Biomarker für das biologische Alter. Bei der DNA-Methylierung handelt es sich um chemische Modifikationen, die bestimmte Gene ein- oder ausschalten können. Diese epigenetischen Veränderungen beeinflussen nicht nur die Genaktivität, sondern spiegeln auch Stressbelastungen und Entzündungszustände wider. Epigenetische Uhren nutzen diese Muster für eine erstaunlich präzise Bestimmung des biologischen Alters im Vergleich zum tatsächlichen Lebensalter.
Für Kinder mit MS besteht somit eine doppelte Belastung: Sie erfüllen die klinischen Kriterien für eine entzündliche neurologische Erkrankung und zusätzlich sind ihre Zellen schneller gealtert. Dies bedeutet nicht nur, dass ihre Funktionen im Nervensystem beeinträchtigt sind, sondern auch, dass sie körperlich und immunologisch einem schnelleren Verschleiß ausgesetzt sind. Ärzte und Forscher können diese Erkenntnisse unter anderem dafür nutzen, um Prognosen besser schätzen und personalisierte Therapien entwickeln zu können, die die Alterungsprozesse bremsen. Die Entdeckung eröffnet neue Fragen und Forschungsfelder. Zum Beispiel untersuchen Wissenschaftler nun den Einfluss von sozialen Stressoren und Umweltfaktoren auf das biologische Altern bei Kindern mit MS.
Insbesondere ärmere familiäre Umfelder, Umweltverschmutzung und Übergewicht werden als mögliche Verstärker der beschleunigten Alterung diskutiert. Diese Faktoren könnten die DNA-Methylierungsmuster intensivieren und damit das Krankheitsbild verschlechtern oder beschleunigen. Langfristig könnten präventive Maßnahmen in der Jugend helfen, das Risiko für schwerere Verläufe der MS zu minimieren. Eine weitere bedeutende Implikation der Studie ist, dass die bislang wichtigste Behandlungsstrategie bei MS – die Immununterdrückung – allein möglicherweise nicht ausreicht. Wenn biologische Alterungsprozesse eine bedeutende Rolle spielen, müssen Therapien entwickelt werden, die auch die zellulären Schäden mildern und regenerative Mechanismen fördern.
Dies könnte die Lebensqualität der Betroffenen wesentlich verbessern und den Krankheitsverlauf verlangsamen. Medizinisch betrachtet geht es nun darum, epigenetische Alterung als biomarkerbasierten Ansatz stärker in die Diagnostik und Behandlung einzubinden. Das frühe Erkennen von beschleunigtem Altern bietet die Möglichkeit, schon im Kindes- oder Jugendalter gezielt Interventionen einzuführen. Dies könnte den Verlauf der Krankheit optimieren und verhindern, dass sich die Betroffenen im jungen Erwachsenenalter mit schweren Behinderungen konfrontiert sehen. Die Studie ist auch ein Weckruf, MS nicht nur als immunologische Erkrankung zu sehen, sondern als komplexen Prozess, in dem ein Zusammenspiel von Immunfunktion, Umweltfaktoren und Alterung eine Rolle spielt.
Nur wenn die Forschung diese Verbindungen besser entschlüsselt, können umfassendere und effektivere Therapien entwickelt werden. In Zukunft sind weitere Langzeitstudien notwendig, um die Verbindung zwischen beschleunigtem biologischem Altern und der Entwicklung von Behinderungen bei MS genau zu verstehen. Solche Studien könnten auch dazu beitragen, gesellschaftliche und gesundheitliche Ungleichheiten zu verringern, indem sie das Verständnis für die Auswirkungen von Umwelt und sozialen Faktoren auf die Gesundheit von Kindern mit chronischen Erkrankungen stärken. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die neue Studie wichtige Einsichten liefert: Kinder mit MS erleben nicht nur die Krankheitssymptome, sondern tragen auch eine deutlich schnellere Zellalterung in sich. Die Erkenntnisse fordern ein Umdenken in der Behandlung und eröffnen Möglichkeiten, den Krankheitsverlauf durch gezielte Therapien frühzeitig zu beeinflussen.
Die Beschleunigung biologischen Alterns bietet damit einen wertvollen Ansatzpunkt, um der MS bei Kindern und Jugendlichen effektiv entgegenzuwirken und die Lebensqualität nachhaltig zu verbessern.