Der technische Einstellungsprozess in der Softwareentwicklung ist seit Jahren ein kontrovers diskutiertes Thema. Während die Branche als Ganzes sich rasant weiterentwickelt, hat sich die Art und Weise, wie Entwicklerinnen und Entwickler rekrutiert werden, kaum verändert. Traditionelle Interviews sind häufig geprägt von algorithmischen Denkaufgaben, die zwar akademisch anspruchsvoll sein können, aber selten den tatsächlichen Anforderungen des Alltags im Berufsleben entsprechen. Gerade in der jüngsten Zeit zeigt sich, dass solche Methoden zunehmend ineffektiv sind – und die Verbreitung von KI-gestützten Tools beschleunigt diese Erkenntnis drastisch. Die Grundlage vieler technischer Interviews bilden sogenannte Leetcode-ähnliche Aufgaben.
Diese Programmierprobleme sollen Kandidatinnen und Kandidaten dazu bringen, Algorithmen zu implementieren oder komplexe Datenstrukturen zu manipulieren. Schnell wird jedoch klar, dass diese Herausforderungen nicht repräsentativ für die operative Arbeit in vielen Softwareteams sind. In der Praxis spielen Faktoren wie Teamkommunikation, Verständnis von Code-Architektur, Fehlerbehebung in komplexen Systemen oder der Umgang mit Legacy-Code eine weitaus größere Rolle. Zudem basieren viele Rollen mehr auf der Anwendung von Frameworks, Tools und pragmatischem Problemlösen als auf der reinen Algorithmen-Performance. Parallel dazu revolutioniert Künstliche Intelligenz die Art und Weise, wie technische Aufgaben angegangen werden.
Moderne KI-Systeme ermöglichen es, selbst anspruchsvolle Coding-Aufgaben innerhalb kürzester Zeit und oft mit hoher Qualität zu lösen. Für Kandidatinnen und Kandidaten ist es heute möglich, KI-Hilfsmittel zu verwenden, um Take-Home-Assignments zu erledigen, Live-Coding-Interviews zu bestehen oder ihre Lebensläufe so zu optimieren, dass sie von automatisierten Bewerbungssystemen bevorzugt werden. Das traditionelle Verständnis von „Betrug“ verändert sich, da man eher von einer Nutzung verfügbarer Tools sprechen muss. Doch gerade diese Entwicklung legt den Finger in die Wunde des bestehenden Interviewprozesses. Die Kernfrage lautet: Worum geht es eigentlich bei der Bewertung von Entwicklerinnen und Entwicklern? Sollte ein Interview überhaupt die Fähigkeit testen, unter Zeitdruck durchdachte Algorithmen auswendig abzurufen? Oder gilt es vielmehr, praktische Kompetenzen und Teamfähigkeit einzuschätzen? Die Realität ist, dass viele Kandidaten im Berufsalltag vermutlich ebenfalls auf KI-gestützte Werkzeuge zurückgreifen werden, um ihre Arbeit effizienter zu gestalten.
Das Verbot solcher Hilfsmittel im Interview wirkt daher wie ein künstliches Hindernis, das wenig mit der tatsächlichen Arbeitsweise zu tun hat. Ein weiterer Kritikpunkt ist die Gefahr von Falschergebnissen bei der Auswahl. Das traditionelle Modell neigt dazu, sogenannte False Positives zu produzieren – Kandidaten, die im Interview brillieren, im Job aber enttäuschen – sowie False Negatives, also talentierte Bewerber, die im harten Interviewformat durchfallen. Einige Experten empfehlen daher, sich eher auf realitätsnahe Aufgaben zu konzentrieren, bei denen die Kandidatinnen und Kandidaten ein kleines Projekt oder eine Komponente umsetzen, die so auch im Team verwendet würde. Dabei kann der Interviewer gezielt Fragen zu Details stellen, die auf den Lebenslauf abgestimmt sind, sodass kein unnötiges Wissen getestet wird.
Das gemeinsame Arbeiten an einem echten Problem gibt häufig ein besseres Bild von den tatsächlichen Fähigkeiten. Darüber hinaus gewinnt die persönliche Interaktion im Prozess wieder an Bedeutung. Präsenzinterviews ermöglichen genauere Einschätzungen von Kommunikationsfähigkeit, Engagement und Teamverständnis. Besonders, wenn Kandidaten während der Arbeit den Bildschirm teilen oder direkt vor Ort an konkreten Problemen arbeiten, wird die Gefahr reduziert, dass sie sich KI-Hilfe unbemerkt bedienen. Natürlich sind solche Verfahren aufwändiger, doch sie werden der Komplexität moderner Entwicklungsarbeit eher gerecht.
Einige Firmen experimentieren auch mit alternativen Ansätzen wie der Bewertung von Open-Source-Beiträgen oder der Zusammenarbeit an bezahlten Projekten vor einer Festanstellung. Diese Methoden erlauben es, die Arbeitseinstellung, die technische Tiefe und die Integrationsfähigkeit der Bewerberinnen und Bewerber über einen längeren Zeitraum realistisch einzuschätzen. Sie umgehen zudem viele der Schwächen klassischer Interviewfragen. Die Herausforderung für Unternehmen besteht darin, ihren Einstellungsprozess als Ganzes neu zu denken. Es gilt, die Fähigkeiten zu messen, die einen erfolgreichen Teamplayer auszeichnen, und nicht nur die Rechenfähigkeit unter Druck.
Ebenso wichtig ist, Werte wie Neugier, Lernbereitschaft und die Fähigkeit, moderne Tools wie KI sinnvoll einzusetzen, sichtbar zu machen. Eine kritische Reflektion über die Rolle von KI im Arbeitsalltag und im Hiring-Prozess ist dabei unumgänglich. Letztendlich führt die zunehmende Nutzung von KI dazu, dass die Diskrepanz zwischen dem, was Interviews testen, und dem, was im Job gebraucht wird, nicht mehr verschleiert werden kann. Unternehmen, die weiterhin auf veraltete Methoden setzen, riskieren es, talentierte Fachkräfte zu verlieren oder Talente auszuwählen, die nicht ideal ins Team passen. Der technische Einstellungsprozess steht an einem Wendepunkt, der Mut zu Veränderung und Offenheit für neue Ideen verlangt.
In der Zukunft werden Recruitingprozesse flexibler und individueller gestaltet sein müssen. Typische algorithmische Tests werden von praxisorientierten Übungen abgelöst, bei denen die Zusammenarbeit, Problemlösungskompetenz und der Einsatz moderner Technologien im Mittelpunkt stehen. Analyse-Tools könnten neben der reinen Leistung auch Soft Skills und Kommunikationsfähigkeit messen. KI wird dabei nicht mehr als Bedrohung, sondern als natürlicher Bestandteil der Entwicklerarbeit gesehen. Der Weg zu besseren technischen Einstellungen erfordert, dass Unternehmen sich nicht nur von veralteten Ritualen verabschieden, sondern auch aktiv die Kompetenzen einfordern, die in einem dynamischen und technologisch durchdrungenen Umfeld gefragt sind.
Nur so kann die Herausforderung gemeistert werden, geeignete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden, die der heutigen und zukünftigen Softwareentwicklung gewachsen sind.