Gähnen ist ein allgegenwärtiges Phänomen, das sich bei zahlreichen Tierarten beobachten lässt – vom Menschen über Hunde bis hin zu Elefanten. Besonders interessant ist das sogenannte ansteckende Gähnen, bei dem ein Gähnen eines Individuums das Gähnen anderer auslöst. Lange Zeit wurde angenommen, dass ansteckendes Gähnen vornehmlich innerhalb der gleichen Art geschieht und eng mit sozialen Bindungen und Empathie verknüpft ist. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Fundació Mona gemeinsam mit internationalen Forschungsteams haben jetzt überrascht entdeckt, dass Schimpansen auch dann zu ansteckendem Gähnen neigen, wenn sie einen menschenähnlichen Androiden beim Gähnen beobachten. Diese Erkenntnisse bieten spannende Einblicke in die Evolution sozialer Verhaltensweisen und werfen neue Fragen zu Interaktionen zwischen biologischen und künstlichen Akteuren auf.
Die Studie, die im Juni 2025 im Fachjournal Scientific Reports veröffentlicht wurde, untersuchte 14 erwachsene Schimpansen in einem Schutzgebiet in Spanien. Die Versuchsanordnung beinhaltete einen speziell entwickelten roboterähnlichen Kopf, der mit servomotorischen Systemen menschliche Gesichtsausdrücke, darunter vollständiges Gähnen, Mundöffnungen ohne Gähnung (Kontrollbewegung) und eine geschlossene Mundhaltung, realistisch darstellen konnte. Dadurch wurde erstmals in Echtzeit beobachtet, ob Schimpansen auf künstliche, nicht-biologische Bewegungen mit dem Gähnen reagieren. Erstaunlicherweise zeigten über die Hälfte der Schimpansen tatsächlich ansteckendes Gähnen als Reaktion auf den vollen Gähnausdruck des Androiden. Sie gähnten signifikant häufiger während der Beobachtungs- und Nachbeobachtungsphase des Gähnens als in den Kontrollbedingungen mit geöffnetem Mund ohne Gähnen oder geschlossenem Mund.
Außerdem beobachteten die Forscher ein vermehrtes Ruhigwerden der Tiere, das sich beispielsweise durch vermehrtes Hinlegen oder Nestbauen äußerte, was darauf hinweist, dass das Gähnen eine Art Signalwirkung als Hinweis auf Ruhephasen haben könnte. Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit der bisherigen Forschung, die zeigt, dass ansteckendes Gähnen nicht nur bei Menschen, sondern auch bei unseren nächsten Verwandten wie Schimpansen und Bonobos verbreitet ist. Schon vorherige Studien hatten belegt, dass Schimpansen Gähnen von Artgenossen oder auch von Menschen nachahmen können. Doch die Reaktion auf einen künstlichen Agenten mit einer komplett mechanischen, wenn auch menschlich anmutenden Mimik, war bislang unbekannt. Die Tatsache, dass Schimpansen auf einen menschenähnlichen Roboter reagieren, ohne dass dieser ein tatsächliches Lebewesen ist, unterstreicht, dass ansteckendes Gähnen nicht zwingend mit bekannten sozialen Bindungen oder biologischer Vertrautheit zusammenhängt.
Es fragt sich, welche Mechanismen die erlernte oder angeborene Antwort auf diesen sozial relevanten Gesichtsausdruck auslösen. Eine plausible Erklärung ist eine Art motorische Resonanz oder Wahrnehmung-Handlungs-Verknüpfung, bei der das Gehirn der Schimpansen automatisch auf beobachtete Bewegungen reagiert, ohne dass komplexe gedankliche Prozesse notwendig wären. Gleichzeitig deuten die beobachteten Ruheverhaltensweisen darauf hin, dass das Gähnen möglicherweise als Hinweisreiz interpretiert wird, der zur Synchronisation von Aktivitätsphasen innerhalb einer Gruppe beiträgt. Die Bedeutung dieses Forschungsergebnisses liegt weit über dem einfachen Nachweis von ansteckendem Gähnen hinaus. Es eröffnet Ansatzpunkte für das Verständnis von sozialer Kognition, Empathie und Imitation bei nicht-menschlichen Primaten.
Die Übertragung solcher Verhaltensweisen auf Interaktionen mit künstlichen Agenten wirft zudem spannende Fragen hinsichtlich der Schnittstellen zwischen biologischer und technischer Intelligenz auf. Die Integration von humanoiden Robotern in Tierstudien bietet nicht nur die Möglichkeit, komplexe Verhaltensphänomene gezielt zu untersuchen, sondern hält auch Potenzial für den Einsatz in der Tierpflege, beim Verhaltenstraining oder der Rehabilitation traumatisierter Tiere bereit. Ein Roboter, der empathisch wirkende Gesten ausführt, könnte zukünftig in der Pflege sozial anspruchsvoller Arten als Bereicherung dienen. Zudem wirft die Studie einen Blick in die Zukunft interspezifischer Kommunikation zwischen Menschen, Tieren und Maschinen. In einer zunehmend technologisierten Welt wird die Fähigkeit, soziale Signale von nicht-biologischen Entitäten zu erkennen und darauf zu reagieren, möglicherweise an Bedeutung gewinnen.
Die Entdeckung, dass Schimpansen auf einen Androiden-Gähner reagieren, zeigt, dass solche Schnittstellen bestehende biologische Verhaltensmechanismen adaptiv nutzen können. Darüber hinaus ergänzt die Studie bestehende Theorien über den Ursprung und die Funktion von Gähnen und seiner ansteckenden Komponente. Während spontanes Gähnen bereits mit physiologischen Prozessen wie der Regulation der Gehirntemperatur und Übergängen zwischen Wach- und Ruhephasen in Verbindung gebracht wird, könnte ansteckendes Gähnen als vor-sprachliches soziales Kommunikationsmittel dienen, das Gruppen synchronisiert und soziale Bindungen stärkt. Die sorgfältige Versuchsanordnung mit einem realistischen Androiden-Design, das Gesichtsausdrücke naturgetreu nachbildet, schenkte gleichzeitig wichtige Erkenntnisse zu den Grenzen und Möglichkeiten biologischer Wahrnehmung. Trotz sichtbarer künstlicher Komponenten nahmen die Schimpansen das Gähnen als echtes soziales Signal wahr und reagierten darauf entsprechend.
Dies impliziert, dass für soziale Reaktionen biologischen Ursprungs vor allem die Konfiguration und Dynamik eines Ausdrucks maßgeblich sind, weit mehr als biologische Identität oder bekannte Kontaktpersonen. Die umfassende Analyse der Verhaltensdaten, einschließlich des Blickverhaltens und der Interaktionsdauer, unterstützte die Interpretation, dass die Reaktionen keine bloße Wertungsfluktuation oder Zufall waren, sondern auf tatsächlicher sozialer Verarbeitung basieren. Die Kontrolle verschiedener experimenteller Bedingungen eliminierte alternative Erklärungen wie erhöhte Aufmerksamkeit bei Bewegung oder visuelle Reize allein. Zukünftige Forschung könnte untersuchen, ob auch andere von Robotern oder virtuellen Agenten dargebotene Bewegungsmuster bei Tieren soziale Reaktionen hervorrufen. Beispielsweise könnten weitere Gesichtsausdrücke wie Lachen, Traurigkeit oder Aggression getestet werden, um die Bandbreite sozialer Verarbeitung künstlicher Reize besser zu verstehen.
Langfristig wäre auch interessant, ob Schimpansen sich an wiederholte Interaktionen mit Androiden anpassen oder welche neurobiologischen Mechanismen hinter der motorischen Resonanz stehen. Auch im Bereich der Human-Robot-Interaktion liefern die Erkenntnisse wichtige Hinweise. Sie zeigen, dass soziale Verhaltensmechanismen tief verwurzelt und möglicherweise universell sind, was wiederum Design und Entwicklung humanoider Roboter in Bezug auf soziale Akzeptanz und Empathiefähigkeit beeinflussen kann. Wenn selbst nicht-menschliche Primaten auf technische Agenten sozial reagieren, dann bieten sich für menschenähnliche Roboter vielfältige Möglichkeiten, natürliche soziale Verbindungen aufzubauen. Im Fazit zeigt die Forschung eindrücklich, dass ansteckendes Gähnen nicht nur eine simple Verhaltensweise ist, sondern ein komplexes Zusammenspiel aus biologischen, sozialen und kognitiven Faktoren darstellt.
Dass Schimpansen auf einen Androiden-Gähner reagieren, ist nicht nur eine wissenschaftliche Sensation sonder erweitert unser Verständnis der sozialen Wahrnehmung und des tierischen Bewusstseins erheblich. In einer Welt, in der die Grenzen zwischen biologischem Leben und Technologie immer mehr verschwimmen, legen solche Studien den Grundstein für ein vertieftes Verständnis der Interaktion von Lebewesen und künstlichen Agenten – ein Feld, das den Bereich der Verhaltensbiologie, Robotik, Kognitionswissenschaft und Ethik gleichermaßen bereichert und herausfordert.