In den letzten Jahrzehnten ist das Thema Autismus zunehmend in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Diskussionen gerückt. Besonders die scheinbar dramatisch steigenden Zahlen von Autismus-Diagnosen polarisieren Experten, Betroffene und die Öffentlichkeit. Ist Autismus tatsächlich häufiger geworden, oder sind andere Faktoren für den Anstieg ursächlich? Eine klare Antwort zu finden, ist komplex und erfordert das Verständnis sowohl historischer als auch moderner Diagnostik, politischer Rahmenbedingungen sowie gesellschaftlicher Veränderungen. In diesem Beitrag gehen wir den Ursachen für den vermeintlichen Anstieg von Autismusraten nach und erläutern, warum es sich höchstwahrscheinlich nicht um ein echtes „Epidemie“-Phänomen handelt, sondern vielmehr um eine Erscheinung diagnostischer und sozialer Entwicklungen. Zunächst ist festzuhalten, dass die Zahl der diagnostizierten autistischen Personen in offiziellen Statistiken in vielen Ländern – darunter auch Deutschland – deutlich gestiegen ist.
Konkrete Beispiele zeigen, dass etwa bei Kindern die Diagnosehäufigkeit teilweise das Hundertfache der Werte aus den 1980er und 1990er Jahren erreicht hat. Einige Berichte sprechen von etwa 1 bis 1,2 Prozent der Kinderschaft, die inzwischen als autistisch diagnostiziert werden. Das erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, dass Autismus plötzlich massenhaft auftritt. Doch wie aussagekräftig sind diese Zahlen wirklich? Ein zentraler Faktor für die Interpretation der Daten ist der Wandel der diagnostischen Kriterien. Historisch betrachtet wurde Autismus erst im Jahr 1943 vom Kinderpsychiater Leo Kanner als eigenständige Entwicklungsstörung beschrieben.
Noch lange Zeit galten die Diagnosekriterien als sehr streng und komplex. Diagnosen wurden eher selten gestellt, da das Bewusstsein für die Vielfalt autistischer Symptome fehlte, die medizinische Versorgung eingeschränkt war und viele Betroffene eine unerkannte soziale Isolation erfuhren. Erst ab den 1980er Jahren mit der Veröffentlichung des DSM-III (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) standardisierten Ärzte die Diagnosekriterien für Autismus, was zu einem leichteren Zugang für Diagnosen führte. Im Laufe der Jahre wurden die Diagnosekriterien immer weiter gelockert und erweitert. So war im DSM-III noch eine ganze Reihe schwerer Symptome Voraussetzung, darunter eindeutige soziale Abgestumpftheit und komplexe stereotype Verhaltensrituale.
Mit Veröffentlichung des DSM-IV ab Mitte der 1990er Jahre wurde das Spektrum deutlich erweitert. Die neuen Kriterien erlaubten nun, auch mildere Formen des Autismus (einschließlich Asperger-Syndrom) zu erkennen, deren Symptome oft weniger offensichtlich oder schwerwiegend sind. Dies führte dazu, dass viele Menschen, die früher nicht diagnostiziert wurden, nun unter dem Begriff Autismus gezählt werden konnten. Parallel zur diagnostischen Lockerung stiegen die Bemühungen, Autismus frühzeitig und umfassender zu erkennen. Öffentliche Sensibilisierungskampagnen, Schulung von Fachpersonal und Eltern sowie gesetzliche Verpflichtungen, behinderte Kinder in Bildungseinrichtungen bestmöglich zu unterstützen, führten dazu, dass immer mehr Kinder untersucht und formal diagnostiziert wurden.
In vielen Ländern machen Bildungsgesetze die Diagnose von Autismus zu einer Voraussetzung, um Fördermittel und therapeutische Angebote zu erhalten, was zu einem finanziellen Anreiz für Diagnosen führt. Hinzu kommt, dass heute eine frühere Diagnose möglich ist, da Screening-Programme wie der M-CHAT (Modified Checklist for Autism in Toddlers) routinemäßig in Kinderarztpraxen eingesetzt werden. Je früher ein Kind als autistisch eingeschätzt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer Diagnose, was ältere Statistiken nicht abbilden. Das bedeutet, dass ältere Generationen als Erwachsene häufiger nicht diagnostiziert und dadurch in Statistiken fehlen, während Kinder zunehmend und zeitnah erfasst werden. Eine besonders oft angeführte Belegstelle für das vermeintliche Autismus-„Epidemie“-Phänomen kommt aus Kalifornien, USA, wo vom California Department of Developmental Services (CDDS) seit Jahrzehnten Datenerhebungen erfolgen.
Die offiziellen Zahlen zeigen einen sprunghaften Anstieg der Diagnosen von minimalen 0,001 Prozent im Jahr 1931 auf heute rund 1,2 Prozent. Doch diese Abfolge allein genügt nicht als Beweis einer wahren Zunahme. Die Daten aus den frühen Jahrzehnten sind durch erhebliche Verzerrungen belastet, da viele Erwachsene damals nie diagnostiziert wurden, ältere Betroffene eine kürzere Lebenserwartung hatten und Diagnosestandards sowie Aufklärung sich über Jahre drastisch verändert haben. Eine Studie der University of California Medical Investigation of Neurodevelopmental Disorders (M.I.
N.D.) versuchte die Ursachen hinter dem Kalifornien-Anstieg zu klären. Die Forscher kamen zu einem sehr umstrittenen Schluss, nämlich dass eine Lockerung der Diagnosekriterien die Identifikation nicht erklären könne, was jedoch bei genauer Betrachtung mehr auf einem Missverständnis der statistischen Methoden beruhte. Vergleichbar mit der Altersdefinition für „große Männer“ verdeutlicht somit ein gesenktes Diagnose-Schwellenwertsystem sehr wohl, wie eine vermeintliche Verdoppelung oder Verdreifachung von Fällen ohne reale Zunahme entstehen kann.
Darüber hinaus hat sich die Zusammensetzung der Diagnosen signifikant verändert: Kürzlich diagnostizierte Personen zeigen oft mildere Symptome und liegen seltener unter der Kategorie der intellektuellen Beeinträchtigung, als dies in den Vorjahrezehnten der Fall war. Dies spricht eindeutig dafür, dass erhöhter diagnostischer Umfang bei weniger schweren Fällen den Anstieg maßgeblich erklärt. Ein oft übersehener Punkt ist das Phänomen der Diagnostikverlagerung und -substitution. Dabei werden Kinder, die früher unter „geistiger Behinderung“ oder „Lernschwäche“ geführt wurden, heute vermehrt als autistisch klassifiziert, da eine solche Diagnose bessere Fördermöglichkeiten bietet. Ebenso erhöhen verbesserte Aufzeichnungen durch elektronische Gesundheitsakten, Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen Datenbanken und Förderprogrammen die Erfassungsrate.
Diese systematischen Verbesserungen der Fallidentifikation sind ein wichtiger Treiber von statistisch sichtbaren Zuwächsen. Sozialer Kontext und das Bewusstsein für Autismus spielen ebenfalls eine bedeutende Rolle. Studien zeigen, dass Familien und Ärzte eher bereit sind, eine Autismusdiagnose zu stellen, wenn in der Nähe bereits andere Diagnosen dieser Art bekannt sind. Dies hat einen Dominoeffekt, der lokal für erhöhte Diagnosezahlen sorgt und so das bundes- oder landesweite Aufkommen verstärkt erscheinen lässt. Des Weiteren wandelt sich das Bild von Autismus, sodass Menschen heute erkennen, dass Autismus auch ohne schwere Beeinträchtigungen oder geistige Behinderung vorliegen kann, was die Anzahl der diagnostizierten Fälle natürlich erhöht.
Trotz dieser Faktoren wird gelegentlich bemüht, dass es doch eine tatsächliche Zunahme an Autismusfällen geben müsse. Als mögliche Ursachen werden politische und gesellschaftliche Veränderungen diskreditiert und Umwelteinflüsse wie Impfungen, Chemikalien, Medikamente oder Infektionen ins Feld geführt. Die wissenschaftliche Evidenz spricht jedoch wiederholt und klar gegen jede kausale Verbindung zwischen Impfungen und Autismus. Umfassende Studien mit Millionen Betroffener konnten keinen Zusammenhang feststellen. Verbreitete Theorien vom Impfstoff verursachtem Autismus basieren auf widerlegten und betrügerischen Studien sowie auf Fehlschlüssen.
Andere vermeintliche Ursachen, etwa die Verwendung von Paracetamol während der Schwangerschaft oder Ultraschalluntersuchungen, konnten ebenfalls nicht stichhaltig belegt werden. Umwelttoxine und Infektionskrankheiten scheiden nach aktuellem Stand ebenfalls als Erklärung aus. Die genetische Komponente von Autismus ist hoch, was durch komplexe Vererbungsmuster vom Internetzeitalter bis heute gut belegt ist. Einige echte Faktoren, die zu einem leichten Anstieg der Autismusrate beitragen könnten, sind etwa das zunehmende Alter von Eltern bei der Geburt. Forschung zeigt, dass ältere Eltern, sowohl Mutter als auch Vater, aufgrund altersbedingter Mutationen ein minimal höheres Risiko haben, ein autistisches Kind zu bekommen.
Auch Fortschritte in der Neonatalmedizin ermöglichen heute das Überleben von Kindern mit komplexen medizinischen Bedingungen, die früher nicht überlebten und bei denen Autismus als Nebeneffekt auftreten kann. Solche medizinischen Fortschritte können also zu einem leichten relativen Anstieg beitragen. Trotz aller Untersuchungen stehen Forschende und Gesundheitsexperten vor der Herausforderung, wie sie mit der gestiegenen Nachfrage an Diagnose und Therapie umgehen. Die Kosten für die Betreuung von autistischen Menschen sind immens und werden laut Prognosen in den kommenden Jahren weiter steigen. Gleichzeitig kritisieren Fachleute, dass oftmals Kinder und Erwachsene mit milden Symptomen eine Diagnose erhalten und teure Behandlungsangebote in Anspruch nehmen, die nicht immer notwendig oder hilfreich sind.
Es gibt Bedenken, dass das Autismus-Spektrum auf Kosten einer medizinischen Pathologisierung von normalem Verhalten überdehnt wird. Das Thema diagnostische Inflation ist also keineswegs nur akademisch, sondern hat reale Konsequenzen hinsichtlich der Allokation öffentlicher Gesundheitsressourcen und der individuellen Versorgungssituation. Kritiker mahnen an, die Diagnosestandards präziser zu fassen und die medizinische Bewertung sorgfältiger vorzunehmen, damit Kinder und Erwachsene mit wirklich relevantem Förderbedarf optimal unterstützt werden können. Das gilt insbesondere in Bezug auf die Finanzierung von Therapien und inklusiven Bildungseinrichtungen. Eine weitere interessante Erkenntnis der letzten Forschung ist, dass die Autismusprävalenz bei Erwachsenen ähnlich hoch sein dürfte wie bei Kindern, obwohl viele Erwachsene nicht diagnostiziert sind.
Untersuchungen aus Skandinavien und Großbritannien belegen, dass bei sorgfältiger screeningbasierter Untersuchung der Prozentsatz autistischer Erwachsener fast dem der Kinder entspricht. Das spricht für eine weitgehende Stabilität der tatsächlichen Prävalenz über die Lebenszeit und bestätigt den Einfluss der veränderten Diagnosepraktiken bei Kindern auf statistische Erwachsenenzahlen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die dramatisch gestiegenen Diagnosezahlen von Autismus vorwiegend auf Veränderungen in der Definition, in der Diagnostikpraxis, der psychiatrischen Klassifikation, verbesserten Erfassungsmethoden sowie gesellschaftlich-politischen Anreizen beruhen. Die Theorie einer echten und rasanten Zunahme der biologischen oder umweltbedingten Autismusprävalenz ist durch aktuelle Forschungen nicht belegt und wird zunehmend als Mythos entlarvt. Wichtig ist trotzdem, dass Kinder und Erwachsene mit Autismus, ganz gleich ob schwer oder leicht betroffen, gezielt und angemessen unterstützt werden.
Statt aber die zunehmenden Diagnosen als Epidemie zu missverstehen, sollte der Fokus auf einer differenzierten Versorgung und einer kritischen Diskussion um Diagnoserichtlinien liegen. Diese Diskussion muss auch ethische Fragen zur Pathologisierung und gesellschaftlichen Integration von Autismus mit einschließen. Die Herausforderung bleibt somit, sorgfältig zwischen echtem medizinischem Bedarf und einer möglichen Überdiagnose zu differenzieren, evidenzbasierte Versorgungsstrategien zu fördern und die Öffentlichkeit mit fundierten Informationen zu versorgen, um unnötige Ängste und Falschinformationen zu vermeiden. Autismus ist und bleibt ein wichtiges Thema, das eine sachliche Betrachtung und einen respektvollen Umgang verdient.