Die Menschheitsgeschichte ist geprägt von der Entwicklung und Nutzung unterschiedlichster Werkzeuge, die das Überleben und die kulturelle Entfaltung entscheidend beeinflusst haben. Eine bemerkenswerte Entdeckung aus jüngster Zeit zeigt, dass unsere Vorfahren bereits vor rund 20.000 Jahren Werkzeuge aus Wal-Knochen herstellten. Diese Fundstücke aus dem Bereich des heutigen Bay of Biscay, einer Meeresbucht zwischen Spanien und Frankreich, geben wertvolle Hinweise auf die Techniken, mit denen Menschen während der letzten Eiszeit lebten und überlebten. Die Herstellung von Werkzeugen aus Wal-Knochen ist nicht nur faszinierend aufgrund des Materials selbst, sondern auch wegen der fortgeschrittenen Fähigkeiten, die zum Verarbeiten solch massiven Knochen erforderlich waren.
Diese Werkzeuge wurden dabei vermutlich hauptsächlich für die Jagd auf andere Tiere wie Rentier oder Bison eingesetzt, was die Anpassungsfähigkeit der damaligen Menschen an ihre Umgebung verdeutlicht. Die Fundorte, die sich entlang der Atlantikküste in Südwest-Europa befinden, sind bereits seit über hundert Jahren bekannt, doch erst moderne wissenschaftliche Methoden wie die Radiokarbondatierung und andere technologische Fortschritte ermöglichten nun die präzise zeitliche Einordnung der Artefakte. Die Analyse ergab, dass die Werkzeuge aus den Knochen von verschiedenen Walarten gefertigt wurden, darunter Blau- und Pottwale. Die Auswahl abwechslungsreicher Walarten zeigt, dass die Menschen die Küstengewässer genau kannten und die Knochen von gestrandeten oder toten Walen nutzten, anstatt selbst aktiv Wale zu jagen. Diese Praxis des Aas-Sammelns war sicherlich ein kluger Überlebensmechanismus in der herausfordernden Umwelt der Eiszeit.
Die Werkzeuge selbst zeichnen sich durch ihre schmale Form aus und wurden vermutlich als Speere oder andere Jagdgeräte verwendet. Das Material Wal-Knochen bot dabei Vorteile: Es ist dicht und robust, gleichzeitig aber bearbeitbar, wodurch scharfe und langlebige Spitzen hergestellt werden konnten. Solche Instrumente konnten effektiv im Jagdalltag eingesetzt werden, insbesondere bei der Verfolgung von schnelleren oder größeren Tieren. Diese Entdeckung widerlegt frühere Annahmen, dass Werkzeuge aus Knochenmaterial in maritimen Regionen Europas meist jünger seien – vor der neuen Datierung galt eine Höchstaltersgrenze von etwa 5.000 Jahren als gesichert.
Die aktuelle Forschung im Journal Nature Communications verschiebt diese Grenze um das Vierfache nach hinten und schreibt damit ein neues Kapitel in der Geschichte der frühmenschlichen Technologie. Neben der Nutzung von Knochen von Walen gehörten zum täglichen Leben der damaligen Menschen sehr wahrscheinlich auch das Sammeln von Muscheln sowie das Fischen. Die Küstenregionen spielten eine zentrale Rolle für die Versorgung mit Nahrung und Materialien. Die Meeresspiegel waren während der letzten Eiszeit niedriger als heute, weswegen die damaligen Küstenlinien erheblich anders verliefen. Der steigende Meeresspiegel in den Folgejahrtausenden hat viele der damaligen Siedlungs- und Fundstätten heute überflutet oder zerstört, was die Suche und Erforschung solcher Artefakte erschwert.
Daher sind die nun entdeckten Überreste aus der Bay of Biscay von besonderer Bedeutung, da sie eine seltene und gut erhaltene Quelle für die Erforschung der Nutzung maritimer Ressourcen durch prähistorische Menschen darstellen. Wissenschaftler wie Jean-Marc Pétillon vom französischen Nationalen Zentrum für Wissenschaftliche Forschung (CNRS) betonen, dass diese Funde wichtige Hinweise auf die engen Beziehungen zwischen Menschen und Meeresbewohnern der Vorzeit liefern. Die Tatsache, dass frühere Menschen Knochen von riesigen Meeressäugern als Werkzeugmaterial verwendeten, zeigt, wie flexibel sie auf verschiedene Umweltressourcen reagierten. Es gibt Hinweise darauf, dass solche Praktiken nicht nur im Atlantikraum verbreitet waren, sondern auch in anderen küstennahen Regionen wie der Arktis und dem Südpazifik. Die Verwendung von Wal-Knochen als Rohstoff könnte somit eine weit verbreitete Tradition in der menschlichen Frühgeschichte sein.
Die Untersuchung der Werkzeuge erfolgte durch interdisziplinäre Ansätze, die Archäologie, Paläontologie und moderne Labormethoden miteinander verbinden. Die Knochenfragmente wurden nicht nur chronologisch datiert, sondern auch mikroskopisch auf Bearbeitungsspuren und Gebrauchsspuren analysiert. Dadurch lassen sich Rückschlüsse auf die Herstellungs- und Nutzungstechniken ziehen. Die Ergebnisse sind beeindruckend: die handwerkliche Kunstfertigkeit der Menschen vor 20.000 Jahren war hoch entwickelt und zeigt eine bewusste Auswahl der Materialien, sorgfältige Bearbeitung und ein aufgabenorientiertes Design der Werkzeuge.
Die Bedeutung dieser Erkenntnisse besteht nicht nur darin, dass sie unser Wissen über die Altsteinzeit erweitern, sondern auch in ihrer Aussagekraft über die Anpassungsstrategien früher Gesellschaften an Umweltbedingungen, die geprägt waren von aggressivem Klima, wechselnden Landschaften und begrenzten Ressourcen. Das Sammeln von Wal-Knochen an Stränden bedeutete, dass Menschen maritimes Know-how besitzen mussten, denn Wale zu finden erfordert Wissen über Wanderungsrouten und das Verhalten dieser Tiere. Zudem benötigten sie Fähigkeiten, riesige Knochen zu transportieren und zu bearbeiten. Aus kultureller Sicht können wir spekulieren, dass diese Werkzeuge auch soziale oder symbolische Funktionen gehabt haben könnten. In vielen traditionellen Gesellschaften spielten große Meerestiere wie Wale eine bedeutende Rolle in Mythen, Riten und Gemeinschaftsleben.
Vielleicht hatten solche Werkzeuge neben ihrer praktischen Nutzung auch eine symbolische Dimension, die das Selbstverständnis oder den sozialen Status ihrer Nutzer beeinflusste. Die jüngsten Entdeckungen verdeutlichen darüber hinaus, wie modernste wissenschaftliche Methoden alte archäologische Fundstücke neu beleuchten können. Die Ergebnisse zeigen, dass auch kleine Knochenfragmente wertvolle Informationen liefern, wenn sie mit innovativen Analysetechniken untersucht werden. Diese Methodik wird in Zukunft sicher weitere überraschende Erkenntnisse über das Leben unserer frühen Vorfahren ermöglichen und möglicherweise neue Fundorte an bislang unbekannten Küstenregionen erschließen. Insgesamt erweitert die Datierung der ältesten bekannten Wal-Knochenwerkzeuge das Verständnis der menschlichen Nutzung maritimer Ressourcen erheblich.
Sie illustriert die enorme Kreativität und Anpassungsfähigkeit unserer entfernten Vorfahren und unterstreicht, dass bereits vor 20.000 Jahren Menschen die Küsten Europas effektiv nutzen konnten. Diese Entdeckung ist damit ein wesentlicher Beitrag zur Erforschung der menschlichen Kulturen in der Altsteinzeit und ein faszinierendes Beispiel für die Verbindung zwischen Mensch und Meer in der tiefen Vergangenheit.