In der malerischen Landschaft Schottlands, nahe der Stadt Dunkeld, verbirgt sich ein außergewöhnliches Zeugnis römischer Militärgeschichte – der Nagelhort von Inchtuthil. Im Jahr 1959 machte ein archäologisches Team, geleitet von Sir Ian Richmond, einen Fund, der bis heute als einmalig gilt. In einer zwölf Fuß tiefen Grube unter dem Boden einer Werkstatt, der sogenannten Fabrica, entdeckten sie über 800.000 eiserne Nägel, die weitgehend original erhalten geblieben sind. Dieses Massenlager an Nägeln ist nicht nur wegen seiner Größe beeindruckend, sondern auch wegen des Einblicks, den es in die römische Militär- und Bauweise bietet.
Der Fundort Inchtuthil war eine römische Legionärsfestung, deren Bau wahrscheinlich kurz nach dem Sieg des römischen Feldherrn Agricola über die caledonischen Stämme bei der Schlacht von Mons Graupius im Jahr 83 n. Chr. begann. Diese Festung stellt einen wichtigen Knotenpunkt in einer Kette von Militärlagern dar, die das römische Reich als zweite Verteidigungslinie im heutigen Schottland errichtete. Trotz ihres immensen Umfangs wurde Inchtuthil schon wenige Jahre später, vermutlich um 87 bis 90 n.
Chr., abrupt aufgegeben, was sich in der Fülle der nicht genutzten Baumaterialien und des Nagelvorrats widerspiegelt. Die außergewöhnliche Menge an Nägeln, die bei den Ausgrabungen gefunden wurde, gibt wertvolle Hinweise auf das Ausmaß der Bauarbeiten und die Komplexität der römischen Festungsbauten zur Zeit der Besatzung in Schottland. Die Nägel variieren in Größe erheblich – von winzigen rund 38 Millimeter langen Nägeln bis hin zu massiven 372 Millimeter langen Bolzen. Die kleineren Nägel wurden hauptsächlich für den allgemeinen Holzbau verwendet, etwa beim Errichten von Kasernen oder anderen Gebäuden.
Die größeren Nägel dienten zum Zusammenhalten schwerer Holzteile, wie zum Beispiel Steinwände stützende Balkenrahmen der Verteidigungsanlagen. Besonders bemerkenswert ist, dass alle Nägel von Hand im Schmiedefeuer gefertigt wurden. Ihre quadratische Querschnittsform und die handgeschmiedeten Köpfe zeugen von enormem manuellem Aufwand und handwerklicher Kunstfertigkeit. Die Lagerung einer so gewaltigen Anzahl von Nägeln erklärt sich aus der militärischen Situation jener Zeit: Die Festung Inchtuthil war bei der Aufgabe offensichtlich noch längst nicht vollständig erbaut beziehungsweise nicht fertig eingerichtet. Diese Nägel waren zum Teil für zukünftige Ausbauphasen vorgesehen oder für andere geplante Forts, die nördlich angesiedelt werden sollten, um die römische Präsenz in der wilden Gebirgsregion zu stärken.
Die logistischen Herausforderungen, Baumaterialien und vor allem Rohstoffe wie Eisen in die abgelegene Region zu transportieren, waren enorm. Eisen wurde zur Herstellung von Nägeln überwiegend in Form von sogenannten „Pig Iron“ ingots importiert, unter anderem aus Gebieten des römischen Reiches wie dem heutigen Deutschland. Die Frage, warum ein solch unschätzbarer Vorrat an Eisenprodukten einfach vergraben wurde, ist zentral für das Verständnis der Ereignisse. Archäologische und historische Analysen legen nahe, dass die Aufgabe der Festung eher hastig und unter Zeitdruck erfolgte, weil römische Truppen zurückgezogen wurden – vermutlich infolge militärischer Umgruppierungen an anderen Fronten des Reiches. Der Transport von knapp zehn Tonnen Eisenware stellte eine logistische Herausforderung dar, die bei der Eile nicht zu bewältigen war.
Die pragmatische Lösung war es, die Nägel in einem tiefen Graben unter der Werkstatt zu vergraben, den Boden glatt zu stampfen und die Werkstatt anschließend anzuzünden, um die Spuren der militärischen Präsenz zu verwischen. Dieser Vorgang lässt darauf schließen, dass die Evakuierung nicht mit der für Römer typischen Gründlichkeit durchgeführt wurde, sondern vielmehr ein zurückgelassenes und verbranntes Lager hinterließ. Hinweise darauf finden sich auch darin, dass einige Baumstämme der Werkstatt später von den einheimischen Stämmen ausgegraben und weiterverwendet wurden. Die eingelagerten Nägel indes blieben unentdeckt, was aufgrund des sorgfältigen Versteckens und der folgenden Verwüstung zu erklären ist. Die Bedeutung der Nägel beschränkt sich jedoch nicht nur auf ihre Rolle beim Bau der Festung.
Sie könnten auch eine Verwandtschaft zu den Waffen der unterlegenen caledonischen Stämme haben. Vermutlich wurden zurückgelassene Waffen auf dem Schlachtfeld von Mons Graupius erbeutet und ihr Eisen für die Herstellung der Nägel umgeschmiedet. Das macht den Fund zum Symbol eines jeden Aspekts der damaligen Auseinandersetzungen: von der kriegerischen Konfrontation bis zu den Infrastrukturmaßnahmen zur Eindämmung der Landschaft. Die Nachgeschichte des Nagelhorts ist ebenso interessant. Nachdem der Hort 1959 entdeckt wurde, wurden viele Nägel an Museen weltweit verschenkt.
Der Großteil des Bestands wurde jedoch langfristig in einer Stahlfabrik in Motherwell aufbewahrt und schließlich wiederverwertet. So wurde das rohe Eisen dieser antiken Nägel in der modernen Industrie weiterverarbeitet und lebt in neuen Produkten bis heute fort. Für die heutige Forschung bieten die Nägel von Inchtuthil einen unvergleichlichen Einblick in das militärische Leben und die komplexe Infrastruktur der römischen Besatzung Britanniens. Sie illustrieren, mit welch enormem personellen und materiellen Aufwand römische Legionen ihre militärischen Grenzen sicherten und wie schnell sich die politischen und strategischen Entscheidungen auf die Gestaltung einer Region auswirkten. Darüber hinaus erzählen die Nägel eine Geschichte von Aufbruch, Hast und einem abrupten Ende einer römischen Präsenz, von der manchmal nur archäologische Spuren bleiben.
Die Länge und Vielfalt der gefundenen Nägel zeigen, dass selbst scheinbar unbedeutende Objekte wie einfache Eisenprodukte eine zentrale Rolle in historischen Prozessen spielen können. Inchtuthil ist folglich weit mehr als nur ein militärisches Relikt – es ist ein Zeitzeuge einer intensiven Phase der Expansion und des Rückzugs im römischen Britannien, eine Quelle für archäologische Forschung und ein Symbol für das unfassbare handwerkliche Können und die logistischen Herausforderungen einer antiken Großmacht. Der Nagelhort erinnert daran, dass Geschichte oft in den unscheinbarsten Dingen verborgen liegt und die Erforschung solcher Funde neue Wege zum Verständnis unserer Vergangenheit eröffnet.