Speichel ist eine der am meisten unterschätzten Körperflüssigkeiten, obwohl er eine Vielzahl lebenswichtiger Funktionen im Alltag erfüllt. Er sorgt für die Befeuchtung der Mundschleimhaut und ist unverzichtbar für das Schlucken, den Geschmackssinn und die Sprachfähigkeit. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung geht die Bedeutung des Speichels jedoch weit über diese offensichtlichen Aufgaben hinaus. Moderne Forschungen haben gezeigt, dass Speichel ein komplexes Gemisch aus Wasser, Elektrolyten, Proteinen und anderen bioaktiven Substanzen ist, die nicht nur die Mundgesundheit schützen, sondern auch viele systemische Prozesse im Körper widerspiegeln können. Diese Erkenntnisse eröffnen neue Wege für medizinische Diagnosen und therapeutische Ansätze, die Speichel als nichtinvasives und zugängliches Biomaterial nutzen.
Die Bildung und Zusammensetzung des Speichels wird durch das autonome Nervensystem fein reguliert. Während das parasympathische Nervensystem vor allem die Sekretion von Elektrolyten und Wasser über Acetylcholin fördert, steuert das sympathische Nervensystem die Freisetzung von Speichelproteinen mittels Noradrenalin. Unterschiedliche Reize wie Gerüche, Geschmack oder Kauen beeinflussen sowohl das Volumen als auch die biochemische Zusammensetzung des Speichels. Interessanterweise gibt es Unterschiede zwischen Ruhe- und Speichelfluss bei Anregung: So enthält aktiv stimulierter Speichel beispielsweise deutlich mehr Bikarbonat, das zur Pufferung des Mundmilieus beiträgt – aber weniger Proteine als der Speichel im Ruhezustand. Weitere Einflussfaktoren sind das Geschlecht, das Alter, der Zeitpunkt am Tag, die Einnahme von Medikamenten sowie der allgemeine Gesundheitszustand, die das Speichelvolumen und seine Inhaltsstoffe maßgeblich beeinflussen können.
Die gesunde Befeuchtung der Schleimhäute in Mund, Rachen und Speiseröhre ist eine essentielle Aufgabe des Speichels. Ohne ausreichend Feuchtigkeit würden Schluck- und Sprechvorgänge erschwert und die Mundschleimhaut anfälliger für Verletzungen. Darüber hinaus enthält Speichel wichtige Wachstumsfaktoren, Cytokine und Chemokine, die die Wundheilung in diesen Geweben fördern. Studien belegen, dass diese Heilungsprozesse oft schneller verlaufen als bei Hautwunden. Speziell die sogenannten Histatine sind Proteine im Speichel, die eine herausragende Rolle bei der Gewebereparatur spielen und dazu beitragen, Schleimhautverletzungen schnell zu schließen.
Ein weiterer wesentlicher Aspekt der Speichelzusammensetzung ist seine Funktion im angeborenen Immunschutz. Der Speichel enthält vielfältige antimikrobielle Proteine und Peptide, beispielsweise Myeloperoxidase, Lysozym und Lactoferrin, die von Speicheldrüsen, Zellen der oralen Epithelien und Immunzellen gebildet werden. Diese Substanzen wirken gemeinsam gegen eine Vielzahl von Krankheitserregern und verhindern Infektionen im Mundraum. Darüber hinaus unterstützt Speichel das Gleichgewicht der oralen Mikrobiota, indem er schädliche Bakterien in Schach hält und so das Entstehen von Erkrankungen wie Karies oder Parodontitis erschwert. Im Bereich der Zahnmedizin wird der Speichel besonders aufgrund seiner Fähigkeit geschätzt, die Entstehung von Karies zu verhindern.
Die enthaltenen Bikarbonat- und Phosphationen wirken als Puffer, die den pH-Wert im Mundraum stabil halten. Optimalerweise liegt dieser bei etwa 6,8 bis 7,8, wodurch die Zähne vor säurebedingtem Abbau geschützt sind. Zudem binden Salivaproteine Calcium und Phosphat und schaffen eine übersättigte Lösung, die den Prozess der Schmelzmineralisierung unterstützt und somit das Gleichgewicht zwischen Demineralisation und Remineralisation aufrechterhält. Auf diese Weise wirkt Speichel wesentlich daran mit, die Zähne vor Karies zu bewahren. Besonders bemerkenswert ist auch die schnelle Bildung des sogenannten erworbenen Pellicles, einer dünnen, proteinreichen Schicht, die sich auf Zahnoberflächen ablagert.
Diese Schicht schützt den Zahnschmelz vor Calciumverlust, mechanischer Abnutzung und Erosion durch Säuren. Gleichzeitig beeinflusst das Pellicle die bakterielle Besiedelung der Mundhöhle und trägt zur Zusammensetzung der oralen Mikrobiota bei, was wiederum für die Erhaltung der Mundgesundheit von großer Bedeutung ist. In den letzten Jahren ist das Interesse an diagnostischen Anwendungen von Speichel stark gestiegen. Speichel bietet als Probe das entscheidende Plus, dass die Gewinnung einfach, schmerzfrei und kostengünstig ist. Besonders für sensible Patientengruppen wie Kinder, ältere Menschen oder Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen ist dies ein entscheidender Vorteil gegenüber Blutproben.
Im Speichel finden sich zahlreiche biochemisch aktive Substanzen – darunter Enzyme, Hormone, Antikörper, Cytokine sowie DNA- und RNA-Fragmente – die Auskunft über lokale und systemische Erkrankungen geben können. So wird Speichel zunehmend genutzt, um Krankheiten wie Parodontitis, Diabetes, neurologische Störungen, psychische Erkrankungen und verschiedene Krebsarten zu untersuchen. Bei Diabetes mellitus etwa können im Speichel metabolische Veränderungen beobachtet werden. Dazu gehören Schwankungen des Glukosespiegels, höhere Werte des HbA1c und Anzeichen für oxidativen Stress. Diese Speichelparameter korrelieren häufig auch mit dem Zustand des Zahnfleisches, da Diabetes das Parodont erheblich beeinträchtigen kann.
Darüber hinaus wurden veränderte Lipidwerte, Melatoninkonzentrationen und Gesamtproteine im Speichel von Diabetikern festgestellt. Ein ungewöhnliches Speichelprofil im zahnärztlichen Rahmen kann daher wichtige Hinweise auf bislang unerkannten oder schlecht kontrollierten Diabetes liefern. Eine frühzeitige und interdisziplinäre Betreuung kann somit sowohl die allgemeine als auch die orale Gesundheit erheblich verbessern. Auch Stresshormone und andere Marker psychischer Belastungen sind im Speichel messbar. Erkrankungen wie Angststörungen, Schizophrenie oder Depressionen gehen häufig mit erhöhtem Cortisolspiegel einher, das als entscheidender Biomarker für chronischen Stress gilt.
Darüber hinaus können auch andere salivare Marker wie Alpha-Amylase und Lysozym bei Betroffenen verändert sein. Diese Erkenntnisse eröffnen Möglichkeiten, psychosomatische Zusammenhänge besser zu verstehen und damit umfassendere Therapiestrategien zu entwickeln. Gerade in der Zahnmedizin können solche Biomarker helfen, Patienten mit Dentalphobie oder Bruxismus gezielter zu betreuen. Ein weiterer hochspannender Forschungsbereich ist die Früherkennung von Krebserkrankungen mittels Speichelanalysen. Kopf-Hals-Tumoren sowie systemische Tumore wie Brustkrebs oder Bauchspeicheldrüsenkrebs hinterlassen spezifische Marker im Speichel, beispielsweise Antikörper, Antigene und genetische Veränderungen.
Besonders vielversprechend ist der Nachweis von Sialinsäure, die bei bestimmten Krebsarten erhöht vorkommt. Innovative Technologien, wie tragbare Messgeräte zur quantitativen Bestimmung von Sialinsäure, haben bereits erste vielversprechende Ergebnisse für die Früherkennung von Brustkrebs gezeigt. Solche Testverfahren könnten zukünftig nicht nur in spezialisierten onkologischen Zentren, sondern auch in der Allgemeinmedizin und Zahnmedizin eingesetzt werden und somit die Krebsdiagnostik verbessern. Die Zukunft der Diagnostik könnte somit stark von der Analyse von Speichelproben profitieren. Für Zahnärzte stellt die Salivadiagnostik bereits heute ein wertvolles Instrument dar, um Patienten mit erhöhtem Risiko frühzeitig zu identifizieren, die klinische Entscheidungsfindung zu unterstützen und den Verlauf von Krankheiten zu überwachen.
Insbesondere bei Erkrankungen wie Parodontitis kann die Speichelanalyse eine sinnvolle Ergänzung zu traditionellen Untersuchungstechniken darstellen. Die Entwicklung von einfachen, kostengünstigen und schnellen Testverfahren, die im Praxisalltag einsetzbar sind, dürfte die Verbreitung dieser Methoden weiter vorantreiben. Dabei wird ein interdisziplinärer Ansatz, der Medizin, Zahnmedizin und Labordiagnostik verzahnt, eine entscheidende Rolle spielen. Zusammenfassend ist Speichel viel mehr als eine einfache Körperflüssigkeit zur Befeuchtung der Mundhöhle. Er erfüllt einen breiten Spektrum an physiologischen und immunologischen Funktionen, schützt die Zähne und Schleimhäute und bietet spannende Perspektiven als nichtinvasives Diagnosemedium für eine Vielzahl von Erkrankungen.
Die stetig wachsende Forschung unterstreicht die Bedeutung von Speichel in der modernen Medizin und zeigt, dass er zukünftig noch stärker ins Zentrum der Gesundheitsvorsorge rücken könnte.