Inmitten eines komplexen wirtschaftlichen Umfelds, das von Stagflation, geopolitischen Spannungen und protektionistischen Maßnahmen geprägt ist, rückt die Bewertung der Aktienmärkte zunehmend in den Fokus von Investoren und Analysten. Lori Calvasina, Leiterin der US-Equity-Strategie bei RBC Capital Markets, hat jüngst betont, dass die aktuellen Marktpreise "sort of fairly valued" beziehungsweise einigermaßen angemessen erscheinen, trotz der herausfordernden Rahmenbedingungen. Diese Einschätzung wirft ein interessantes Licht auf die Dynamik der Märkte, die sich zwischen Wachstumsschwäche und Inflation bewegen – ein Szenario, das als Stagflation bekannt ist. Es lohnt sich, die Hintergründe dieser Einschätzung, die Einflussfaktoren und die daraus folgenden Implikationen für Investoren genauer zu betrachten. Stagflation ist durch eine Kombination aus stagnierendem oder minimal wachsendem Bruttoinlandsprodukt (BIP) und hoher Inflation gekennzeichnet.
Die Inflation treibt häufig die Lebenshaltungskosten und Produktionskosten in die Höhe, während das schwache Wachstum nur begrenzte Gewinnsteigerungen der Unternehmen zulässt. Hierdurch entsteht ein schwieriges Umfeld für klassische Wachstums- und Value-Investments, denn weder steigende Gewinne noch niedrige Preise lassen sich zuverlässig vorhersagen. Allerdings sorgt die aktuelle Marktreaktion laut Calvasina dafür, dass viele Aktien im Bewertungsraster eine gewisse Balance gefunden haben. Die Modelle von RBC Capital Markets zeigen, dass die gegenwärtigen Kurslevels im Kontext der wirtschaftlichen Unsicherheit, der geldpolitischen Straffung und gehäuften politischen Einschränkungen – wie etwa die von Ex-Präsident Donald Trump angekündigten US-Zollpläne – „kinda reasonable“ sind. Das bedeutet, dass die Märkte in einem Spannungsfeld zwischen Risiken und Chancen stehen, das sich in den Aktienpreisen widerspiegelt.
Die Unsicherheit rund um erwartete Tarifmaßnamen spielt dabei eine wichtige Rolle. Handelspolitische Restriktionen wirken sich direkt auf Unternehmensgewinne aus, insbesondere bei multinationalen Firmen, die global agieren. Die Ankündigung zahlreicher Zölle führte in der Vergangenheit schon zu stärkeren Kursschwankungen, doch laut Calvasina haben die Aktienmärkte diese Herausforderungen weitgehend eingepreist. Hinzu kommen makroökonomische Faktoren wie die Zinspolitik der Zentralbanken. Angesichts der Inflationsentwicklung erhöhen viele Notenbanken die Leitzinsen, um die Geldentwertung einzudämmen.
Höhere Zinsen führen jedoch zu höheren Kapitalkosten für Unternehmen und können die wirtschaftliche Aktivität weiter dämpfen. Gleichzeitig wirken sich Zinssteigerungen auch auf die Aktienbewertungen aus, da sie zukünftige Unternehmensgewinne im Bewertungsmodell reduzieren. Viele Anleger sind sich jedoch zunehmend bewusst, dass trotz des schwierigen konjunkturellen Umfelds bestimmte Sektoren und Unternehmen resilient bleiben oder gar profitieren können. Defensive Branchen wie Versorgungsunternehmen und Basiskonsumgüter gewinnen an Aufmerksamkeit, weil sie in der Regel stabile Erträge auch bei gedämpfter Wirtschaftslage erzielen. Gleichzeitig haben Technologietitel, die lange als Wachstumsaktien galten, in den letzten Monaten einen Spurwechsel vollzogen, indem sie auf Qualitäts- und Profitabilitätskriterien achten, um auch in unsicheren Zeiten attraktiv zu bleiben.
Aus Sicht von Calvasina ist dieser Wandel im Anlegerverhalten ebenso ein Grund, warum die Marktpreise als nicht übertrieben angesehen werden. Ein weiterer Gesichtspunkt, der in den Bewertungen berücksichtigt wird, ist die derzeitige Volatilität. Der VIX-Index, der die erwartete Schwankungsintensität misst, liegt laut aktuellen Daten stabil, was auf eine gewisse Marktroutine bei der Verarbeitung von Negativnachrichten hindeutet. Investoren haben sich auf die jüngsten politischen Wendungen sowie wirtschaftlichen Herausforderungen eingestellt, wodurch überraschende Kursausschläge vorerst ausbleiben. Dies spricht für ein Marktumfeld, das trotz schwieriger Voraussetzungen eine gewisse Stabilität ausstrahlt.
Für Anleger bietet die jetzige Situation sowohl Chancen als auch Risiken. Die Chancen bestehen darin, dass Aktien zu relativ fairen Preisen gehandelt werden, was langfristige Investments attraktiv macht. Insbesondere jene Unternehmen, die Preissetzungsmacht besitzen oder die Inflation an Kunden weitergeben können, könnten sich als Gewinner erweisen. Die Risiken ergeben sich allerdings aus der Unsicherheit über den weiteren Verlauf der Handelspolitik, der geldpolitischen Maßnahmen und der globalen Wachstumsaussichten. Weiterhin könnten unerwartete Ereignisse wie geopolitische Konflikte oder eine Verschärfung der Energiekrise die Lage verschlimmern.
Die breit gefächerte Marktreaktion der letzten Wochen – von starken Kurssteigerungen bei Technologietiteln über rückläufige Industriewerte bis hin zu wechselnden Gewinnern und Verlierern in verschiedenen Branchen – zeigt, wie fragil das Gleichgewicht in diesem wirtschaftlichen Umfeld ist. Anleger sollten sich daher nicht nur auf fundamentale Analysen verlassen, sondern auch die technische Marktstimmung, das politische Umfeld sowie makroökonomische Indikatoren genau beobachten. Die Rolle der Diversifikation und eines langfristigen Anlagehorizontes wird in Zeiten wie diesen besonders deutlich. Ein Portfolio, das unterschiedliche Branchen und Regionen abdeckt, kann besser auf Schwankungen reagieren. Ebenso wichtig ist es, ein wachsames Auge auf Zinsentscheidungen der Zentralbanken zu haben, da diese unmittelbar die Bewertungen beeinflussen.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die Einschätzung von Lori Calvasina und RBC Capital Markets nahelegt, dass die Aktienmärkte in einem von Stagflation geprägten Umfeld aktuell durchaus gerecht bewertet sind. Diese Erkenntnis hilft Investoren, komplexe Marktsituationen besser einzuordnen und fundierte Entscheidungen zu treffen. Trotz der Herausforderungen ermöglichen die aktuellen Bewertungen Chancen für eine ausgewogene Portfoliostrategie, die sich sowohl auf die Stärken von Qualitätsunternehmen konzentriert als auch das Risiko breit streut. Es bleibt jedoch essenziell, die konjunkturellen Entwicklungen und politischen Einflüsse kontinuierlich zu beobachten, um zeitnah auf Veränderungen reagieren zu können.