In der heutigen Zeit lassen sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen Enttäuschungen über verpasste Chancen und unerfüllte Versprechen beobachten. Diese allgemeine Frustration ist auch im akademischen Feld allgegenwärtig und betrifft insbesondere die Geisteswissenschaften ebenso wie die naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen. Peter Thiel, eine der kontroversesten Figuren der Tech-Welt, stellt eine bemerkenswerte Ausnahme dar, indem er zwei in der öffentlichen Diskussion oft getrennte Unzufriedenheiten verbindet: die Stagnation von Technologie und Wissenschaft auf der einen Seite sowie die Beschränkung der Geisteswissenschaften auf einseitige Opfer-Narrative auf der anderen Seite. Diese Kombination eröffnet neue Perspektiven für den Bildungsbereich und wirft wichtige Fragen über den Sinn von Wissenschaft und Bildung im 21. Jahrhundert auf.
Thiels Kritik an den Geisteswissenschaften zielt darauf ab, dass die heute geführten Forschungsfragen zu klein und zu spezialisiert geworden sind. Statt sich den fundamentalen Fragen über das menschliche Dasein, Moral und gesellschaftliche Organisation zu widmen – Themen, die traditionell die Domäne der Philosophie, Geschichte und Literatur waren –, verfangen sich viele Gelehrte in detailverliebtem „Mikro“-Forschungskosmos, der den „Makro“-Blick verliert. Dieses Problem ist in akademischen Kreisen längst erkannt und vielfach diskutiert worden. Die Aufmerksamkeit gegenüber großen Denkern wie Harold Bloom oder die nostalgische Erinnerung an Helen Vendlers Werk sind ein Indiz dafür. Peter Thiel fordert die Geisteswissenschaften heraus, ihren Mut zur Größe wiederzufinden und zu überdenken, wie ihre Arbeit gesellschaftlich relevant werden kann.
Aber warum interessiert einen Tech-Milliardär wie Thiel überhaupt, welche Fragen Historiker, Philosophen und Literaturwissenschaftler stellen? Die Antwort liegt darin, dass eben diese Disziplinen historisch die Fragen über unsere menschliche Natur und das Wesen von Technologie gestellt haben. Neben der bloßen Technisierung unserer Welt geht es auch um die ethische Einbettung von Innovation, die Frage nach dem sinnvollen Menschsein sowie die organisierende Kraft von Gesellschaft und Kultur. Thiel beobachtet mit Sorge, dass diese Reflexionen mittlerweile schwach und fragmentarisch sind, was unserer Fähigkeit zur humanen Gestaltung von Wissenschaft und Technik schadet. Thiel setzt sich seit einigen Jahren in seiner öffentlichen Rede- und Vortragstätigkeit immer wieder mit diesen Themen auseinander. Seine Vorträge an renommierten Institutionen wie der Stanford University oder der Catholic University behandeln philosophische Konzepte wie den katechon – eine Art göttliche Kraft, die das Ende der Welt verzögert – und beziehen sich auf Schlüsseldenker wie Carl Schmitt, René Girard und John Calvin.
Diese großen Denkansätze sollen Orientierung bieten, wie menschliche Gesellschaften funktionieren können und welche Rolle Wissenschaft und Bildung darin spielen sollten. Für Thiel fehlt es heute an einer vergleichbaren Tiefe und Weite in den akademischen Diskursen. Dabei ist Thiel keineswegs nur ein Kritiker. Seine Äußerungen enthalten auch eine versteckte Einladung an die Geisteswissenschaften, optimistischer zu werden und wieder den Glauben an Fortschritt durch große Ideen und heldenhafte Überwindungen zu entwickeln. Er erkennt an, dass die heutige Kultur und Wissenschaft zu viel von einer negativen Perspektive geprägt sind, die vor allem die Risiken neuer Technologien betonen und die positiven Möglichkeiten des Fortschritts ausblenden.
Damit sprechen er und seine Kritik eine weit verbreitete Stimmung an, etwa in der Science-Fiction, im Umweltschutz und in Teilen der Künstlichen-Intelligenz-Forschung. Diese Pessimismen blockieren nicht nur Innovation, sondern wirken auch nach innen in die geisteswissenschaftlichen Debatten hinein. In seinem Stanford-Vortrag „The End of the Future / Nihilism is Not Enough“ beschreibt Thiel die gegenwärtige Lage als von Lügen und Propaganda durchzogen, die eine pessimistische Grundstimmung erzeugt hat. Er betrachtet die Wissenschaft als enttäuscht von ihren eigenen Versprechen, die uns eine bessere Zukunft bringen sollten. Die Versprechen vom technischen Fortschritt, der unsere Welt grundlegend verbessert, scheinen oft nicht eingetroffen zu sein.
Die bekannten Fortschritte in medizinischer Forschung oder Technologie erscheinen vielen nicht mehr als wirkliche Sprünge nach vorn, sondern eher als kleine kosmetische Verbesserungen. Der Gegensatz zur Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts ist deutlich spürbar, als man noch fest an eine ständige Verbesserung aller Lebensbereiche glaubte. Thiel sieht in diesem Stimmungsumschwung auch eine Mitschuld der Geisteswissenschaften, obgleich das nicht seine dezidierte Kernthese ist.
Er bringt oft humorvoll die Bemerkung, dass es für Studenten besser sei, Geisteswissenschaften zu studieren als Naturwissenschaften, weil sie zumindest wissen, dass sie kaum einen Job bekommen. Dagegen lebten einige Naturwissenschaftler in der Illusion, dass das Universum schon alles Mögliche von sich aus regeln werde. Diese sarkastische Bemerkung verdeutlicht die Problematik von übersteigertem Optimismus einerseits und resignativer Pessimismus andererseits. Ein Beispiel für den von Thiel kritisierten Umgang mit Geisteswissenschaften ist seine Intervention in den sogenannten Great Books-Kanonstreit, wo er Werke wie „I, Rigoberta Menchú“ wegen angeblicher Übertreibungen in Zweifel zog. Kritisch betrachtet, fehlt dabei eine Anerkennung für die positiven Werte, die sich in solchen Geschichten finden lassen – Werte wie harte Arbeit, Streben nach Zielerreichung und familiäre Zusammenhänge.
Ironischerweise zeigen biografische Erzählungen wie die von Menchú oder auch Frederick Douglass Beispiele dafür, wie persönliche Überwindungskraft Helden- und Fortschrittsnarrative liefern, die auch in der Tech-Welt geschätzt werden. Eine mögliche Schlussfolgerung aus Thiels Überlegungen wäre daher, dass die Geisteswissenschaften ihre Geschichte und Methodik neu ausrichten könnten: Weg von Opferfokus und problemfixierten Perspektiven hin zu mutigen Reflexionen über Überwindung, Sinnfindung und den reellen Wert von Fortschritt. Das Zusammenspiel von pessimistischen Zukunftserwartungen in der Technologiebranche und einer Opferkultur in den Geisteswissenschaften hinterlässt einen gefährlichen Vakuumzustand, der sowohl Hoffnung als auch Visionen fehlen lässt. Thiel stellt diese Kombination als Grund für den gegenwärtigen Zustand der Verunsicherung dar, in dem keine Kraft mehr vorhanden scheint, einen optimistischen Aufbruch zu wagen. Gleichzeitig zeigt Thiels Kritik aber auch, dass die Geisteswissenschaften das Potenzial haben, ihre Rolle in der Gesellschaft neu zu definieren.
Indem sie grundlegende Fragen – nach Gut und Böse, nach dem Wesen und Zweck des Menschen, nach der Art und Weise, wie wir Wissenschaft gestalten – wieder beherzt und groß denken, können sie einen Gegenpol zu pessimistischer technischer Fatalität bilden. Für die Zukunft der Bildung bedeutet dies, dass die Geisteswissenschaften aufhören sollten, sich auf kleine Fragmentierungen und sichere Identitätsdiskussionen zu beschränken. Stattdessen sollten sie die komplexen Fragen beherbergen, die unser Zusammenleben, die Technologien von morgen und deren ethische Rahmenbedingungen betreffen. Es geht darum, die humanistische Perspektive nicht als Nebenschauplatz zu verstehen, sondern als integralen Bestandteil technologischen Fortschritts. Die Integrationsleistung zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und humanistischer Reflexion eröffnet gerade in einer Zeit großer Umbrüche und Herausforderungen ungeahnte Möglichkeiten.
Hochschulen könnten sich als Orte positionieren, an denen technische Innovationen nicht nur entwickelt, sondern auch nachhaltig und verantwortungsvoll eingeordnet werden. Die Geisteswissenschaften tragen damit zur Stabilität einer gesamten Zivilisation bei – indem sie die „Katechon“-Rolle übernehmen, also das Nachdenken über das, was das gesellschaftliche und weltliche Gleichgewicht erhält. Letztlich symbolisiert Peter Thiel mit seiner Kritik und seinen Perspektiven eine Mahnung an die heutige Bildung: Die Zukunft verlangt nach großen Fragen und großer Antwortbereitschaft, und zwar nicht nur „oben“ in den Natur- und Ingenieurwissenschaften, sondern gerade auch in den Geisteswissenschaften. Nur durch ein erneuertes, optimistisches und mutiges Denken darüber, wie Wissenschaft und Kultur zusammenhängen, lässt sich der Weg zu echtem Fortschritt und einem erfüllten menschlichen Leben finden. Der Diskurs um den richtigen Umgang mit Wissen, Technologie und Gesellschaft ist somit keineswegs bloß akademische Debatte.
Er berührt das Selbstverständnis einer ganzen Generation – und vielleicht sogar die Chance auf eine lebenswerte Zukunft. Die Geisteswissenschaften haben bis heute den Schatz an Fragen und Antworten in sich, der gestellt und gefunden werden muss. Peter Thiel’s Herausforderung kann für sie die Initialzündung sein, den Schatten des Nihilismus abzulegen und optimistisch ihre Rolle in der Gestaltung der Zukunft neu zu erfinden.