Die Vorstellung, dass schwarze Kleidung in heißen, sonnenverwöhnten Wüsten ein Nachteil sei, liegt nahe. Schwarz absorbiert schließlich mehr Sonnenlicht als helle Farben und wird deshalb gemeinhin mit einer erhöhten Wärmeaufnahme assoziiert. Dennoch tragen die Beduinen, die Nomaden der Wüstenregionen im Nahen Osten, traditionell schwarze Roben, auch wenn sie tagsüber extremer Hitze und intensiver Sonnenstrahlung ausgesetzt sind. Dieser scheinbare Widerspruch hat Wissenschaftler schon lange fasziniert und wurde 1980 in einer wegweisenden Studie von Amiram Shkolnik, C. Richard Taylor, Virginia Finch und Arieh Borut im renommierten Fachjournal Nature eingehend untersucht.
Die Ergebnisse geben spannende Einblicke sowohl in die Evolution kultureller Anpassungen als auch in die Physik der Wärmeregulierung bei Menschen unter extremen Umgebungsbedingungen. Beduinen leben seit vielen Jahrhunderten in der äußerst trockenen und heißen Sinai-Wüste. Diese besondere Umgebung verlangt von den Menschen, die dort leben, höchste Anpassungsfähigkeit, nicht nur hinsichtlich Wasserversorgung und Ernährung, sondern auch bezüglich des Schutzes vor starken Sonnenstrahlen und großen Temperaturschwankungen. Die Kleidung spielt hierbei eine zentrale Rolle, da sie direkten Einfluss auf die Wärmeregulierung des Körpers und damit das Überleben hat. Die gängige Annahme, dass helle Kleidung besser gegen Hitze schützt, weil sie Sonnenlicht reflektiert, wird durch die Beobachtung infrage gestellt, dass Beduinen bevorzugt schwarze Gewänder tragen.
Wissenschaftliche Experimente an der Harvard University und der Tel Aviv University untersuchten diese Frage präzise und verglichen den Wärmeeintrag bei Trägern schwarzer und weißer Roben unter desertischen Bedingungen. Eine Ursache der überraschenden Ergebnisse liegt darin, wie kurzwellige solare Strahlung von verschiedenen Oberflächen aufgenommen oder durchgelassen wird. Untersuchungen an Tieren, zum Beispiel das Verhalten von weißem Haar bei Rindern oder Gefieder bei Tauben, zeigten, dass helle Farben tatsächlich mehr kurzwellige Strahlung durchdringen lassen als dunkle. Das bedeutet, dass bei einer weißen Schicht mehr Sonnenstrahlung bis zur Haut durchkommt und dort in Wärme umgewandelt wird. Die schwarze Kleidung absorbiert zunächst zwar mehr Strahlung, gibt diese Energie aber größtenteils an die Umgebungsluft ab, bevor sie die Haut erreicht.
Wind, der in der Wüste oft weht, unterstützt diesen Kühlungseffekt erheblich. Die Roben der Beduinen sind zudem oft locker geschnitten, was eine bessere Luftzirkulation entlang der Haut ermöglicht und das Entweichen der Körperwärme unterstützt. So wirkt die schwarze Kleidung im Zusammenspiel mit den körperlichen und Umweltbedingungen sogar als natürlicher Temperaturregulator. Darüber hinaus ist die Farbwahl für die Beduinen auch kulturell und funktional geprägt: Schwarze Gewänder sind leichter zu färben und zu pflegen in einer Umgebung, in der Wasser knapp und die Luft voller Staub und Sand ist. Die tiefschwarze Kleidung lässt zudem Schmutz weniger sichtbar werden und kann entspannter im Alltag getragen werden.
Neben der Farbwahl ist auch der Stoff wichtig. Leichte, luftdurchlässige Baumwollstoffe ermöglichen es, dass Schweiß verdampfen kann und so zusätzliche Kühlung entsteht. Die Wirkung der Verdunstungskühlung auf der Haut wird durch die Kleidung nicht behindert, sondern sogar unterstützt. Die Kombination aus schwarzer Farbe, lockerem Schnitt und atmungsaktivem Material ist somit ein optimales Ergebnis jahrhundertealter Anpassung. Diese Erkenntnisse aus der Studie von 1980 widerlegen alte Mythen rund um Kleidung und Hitze und zeigen, wie komplex die Interaktionen zwischen Umwelt, Kultur und Physiologie sind.
Für moderne Anwendungen kann die Wissenschaft von der traditionellen Wüstenkleidung lernen – beispielsweise bei der Gestaltung von hitzebeständiger Outdoor-Bekleidung oder Schutzkleidung für extreme Umgebungen. Im Gegensatz zu mechanischen Klimatisierungssystemen sind Kleidungsstücke nachhaltige und risikoarme Lösungen, die auf der eigenen Körperphysiologie basieren. Auch im Bereich der Architektur und Stadtplanung können Prinzipien, die hinter der Wärmeregulation traditioneller Kleidung stehen, Inspiration liefern. Zum Beispiel können Fassadenmaterialien und Farben so gestaltet werden, dass sie Wärme gut absorbieren und gleichzeitig effizient wieder abgeben. Die Ergebnisse verdeutlichen eine wichtige Lektion: Intuitive Annahmen sollten hinterfragt und durch wissenschaftliche Untersuchungen belegt werden, um effektivere Lösungen zu entwickeln.