In einer Zeit, in der wissenschaftliche Erkenntnisse zunehmend öffentlich diskutiert und manchmal auch infrage gestellt werden, gewinnen die Begriffe Konsilienz, Konvergenz der Evidenz und Konsens besondere Bedeutung. Sie helfen zu verstehen, wie Wissenschaft funktioniert, wie wissenschaftliches Wissen zustande kommt und wie es effektiv vermittelt werden kann. Dabei stellen diese Konzepte nicht nur eine Herausforderung für die Kommunikation zwischen Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit dar, sondern werfen auch grundlegende Fragen zu Vertrauensbildung und Erkenntnisgewinn auf. Der Begriff des wissenschaftlichen Konsenses ist in den letzten Jahrzehnten besonders prominent geworden, vor allem in politisch sensiblen Diskussionen wie dem Klimawandel, Impfraten oder Pandemiebekämpfung. Der Konsens wird häufig als ein breiter gesellschaftlicher Rückhalt für wissenschaftliche Erkenntnisse verstanden.
Dies führte dazu, dass viele wissenschaftliche Organisationen und Institutionen öffentliche Erklärungen abgaben, um Zweifel zu bekämpfen und eine gemeinsame Expertenmeinung zu verdeutlichen. Trotz dieser Popularität hat der Begriff „wissenschaftlicher Konsens“ auch erhebliche Kritik erfahren. Einige Wissenschaftler und Kommunikationsexperten argumentieren, dass das öffentliche Verständnis des Konsenses oft zu vereinfacht oder missverständlich ist. Ein solcher Konsens wird nicht selten als Ergebnis einer Meinungsumfrage missverstanden, in der die Mehrheit einer bestimmten Ansicht zugestimmt hat. Diese Vorstellung steht jedoch im Widerspruch zur komplexen innerwissenschaftlichen Realitätsprüfung, bei der viele Aspekte der Forschung – von der Methodik bis zu den zugrunde liegenden Annahmen – hinterfragt und ständig erneuert werden.
Der Herausgeber der Zeitschrift Science, Holden Thorp, hat kürzlich vorgeschlagen, den Begriff des Konsenses durch die Bezeichnung „Konvergenz der Evidenz“ zu ersetzen. Für ihn beschreibt diese Formulierung besser, wie sich wissenschaftliche Erkenntnisse tatsächlich entwickeln: Durch unabhängige Forschungsansätze, die in unterschiedlichen Disziplinen zu den gleichen Schlussfolgerungen führen. Dieses Konzept soll verdeutlichen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht auf bloßer Mehrheitsmeinung beruhen, sondern auf der systematischen Übereinstimmung verschiedener Beweislinien. Der historische Kontext zeigt, dass der Fokus auf Konsens bereits in den 1980ern und 1990ern kritisch hinterfragt wurde. Wissenschafts- und Technikforschung untersuchte, wie Wissenschaftler gemeinsame Positionen entwickeln, wobei auch soziale und politische Einflüsse berücksichtigt wurden.
Insbesondere Sheila Jasanoff argumentierte, dass wissenschaftliche Fakten immer auch mit gesellschaftlichen Ordnungen verknüpft sind – sie entstehen durch Verhandlungen darüber, was als legitim anerkannt wird und was nicht. Diese „Grenzziehungen“ sind strategische Prozesse, die sowohl die Wissenschaft an sich als auch ihre Rolle in der Gesellschaft gestalten. Das Konzept der Konvergenz der Evidenz ist dabei in der Tradition des Philosophen William Whewell zu sehen, der im 19. Jahrhundert den Begriff Konsilienz prägte. Whewell stellte heraus, dass für die Begründung wissenschaftlicher Theorien nicht nur einzelne Beobachtungen ausreichen, sondern dass Beweise aus verschiedenen unabhängigen Quellen miteinander übereinstimmen müssen.
Diese Übereinstimmung verschafft der Theorie größere Glaubwürdigkeit und verbessert die Robustheit wissenschaftlicher Erkenntnisse. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist Charles Darwins Werk zur Evolution, welches Beweise aus Genetik, Geologie, Biogeographie und weiteren Feldern zusammenführte. Dieses interdisziplinäre Vorgehen erlaubte es Darwin, komplexe Naturphänomene kohärent zu erklären und widerlegte zugleich zahlreiche alternative Erklärungen. Solche interdisziplinären Ansätze zeigen den Wert von Konsilienz als integrativem Verfahren für die Erkenntnisbildung. Während Konvergenz der Evidenz eher innerhalb einer speziellen wissenschaftlichen Disziplin oder einem Fachgebiet stattfindet, strebt das Konzept der Konsilienz eine noch weiterreichende Verknüpfung verschiedener Wissensbereiche an.
Es fordert die Übersetzung und Integration unterschiedlicher Erkenntnismethoden und erkennt auch unterschiedliche Denkweisen als bereichernd an. In einer globalisierten und komplex vernetzten Welt kann dieser gedankliche Brückenschlag helfen, fragmentiertes Wissen zu bündeln und innovative Lösungen beispielsweise für gesellschaftliche Herausforderungen zu finden. Gleichzeitig führt die öffentliche Diskussion um wissenschaftlichen Konsens zu Spannungen und Skepsis. Insbesondere wenn wissenschaftliche Meinungsbilder stark betont werden, fühlen sich manche Menschen ausgeschlossen oder übergangen. Stimmen von wenigen Forschern, die vom Mainstream abweichen, werden instrumentalisiert, um den Eindruck eines angeblichen Dissenses zu stärken – oft mit dem Ziel, Zweifel an bewährten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu säen.
Diese Dynamik ist eng mit der Wahrnehmung von Wissenschaft als elitär oder fern der Lebensrealität vieler Menschen verbunden. Wissenschaftliche Prozesse erscheinen häufig komplex und undurchsichtig. Zweifel an der Wissenschaft können sich zudem aus allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen speisen, etwa einem wachsenden Misstrauen gegenüber Institutionen oder der zunehmenden Verbreitung von Fehlinformationen in den Medien. Daher bedarf es einer transparenten und offenen Wissenschaftskommunikation, die nicht nur Ergebnisse vermittelt, sondern auch den Weg zu diesen Erkenntnissen erklärt. Offenheit, Replizierbarkeit und Nachvollziehbarkeit von Studien sind wesentliche Voraussetzungen, um Vertrauen aufzubauen und Kritik konstruktiv zu begegnen.
In der wissenschaftlichen Praxis ist es wichtig, Konsens nicht als starres Dogma zu verstehen, sondern als vorläufigen Stand des Wissens, der immer auch in Frage gestellt und weiterentwickelt werden darf. Kritik und Hinterfragung spielen eine zentrale Rolle für den Fortschritt. Wissenschaft lebt von der Bereitschaft, Annahmen zu überprüfen und sich neuen Daten zu öffnen. Dabei darf der Begriff Konsens nicht zur Ausschlusskarte werden, sondern soll den aktuellen Wissensstand beschreiben. Die Reflexion über Konsilienz, Konvergenz und Konsens zeigt deutlich, dass Wissenschaft kein linearer oder rein objektiver Prozess ist.
Sie ist vielmehr ein dynamischer gesellschaftlicher Vorgang, der durch vielfältige Einflüsse geprägt wird. Die Herausforderung besteht darin, die Stärken der wissenschaftlichen Methode mit Offenheit, Kommunikation und interdisziplinärer Zusammenarbeit zu kombinieren. In einer Zeit großer gesellschaftlicher Veränderungen und komplexer globaler Probleme, von der Klimakrise bis zur Gesundheitsversorgung, brauchen wir mehr denn je eine Wissenschaft, die auf Konsilienz und Konvergenz basiert, transparent arbeitet und eine breite Öffentlichkeit mitnimmt. Nur so kann Wissenschaft ihre Rolle als verlässliche Wissensquelle und Impulsgeber für Entscheidungen in Politik und Gesellschaft erfüllen. Die Zukunft der Wissenschaftskommunikation muss daher über einfache Schlagworte wie „Konsens“ hinausgehen.
Es bedarf einer differenzierten und ehrlichen Auseinandersetzung mit der Natur von Wissen und Erkenntnis. Indem wir die Prinzipien der Konsilienz und der Konvergenz der Evidenz fördern, legen wir den Grundstein für eine Wissenschaft, die nicht nur fundiert ist, sondern auch das Vertrauen der Gesellschaft verdient und erhält.