Der Wunsch, Blei in Gold zu verwandeln, hat die Menschheit seit der Antike fasziniert. Die Alchemisten des Mittelalters suchten unermüdlich nach einem geheimen Verfahren, um das preiswerte, häufig vorkommende Blei in das kostbare und seltene Gold umzuwandeln. Diese sogenannte Chrysopoeia blieb lange ein unerreichbarer Traum, da die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Chemie zeigten, dass diese Elemente sich kräfte- und strukturbedingt fundamental unterscheiden. Erst im 20. Jahrhundert eröffnete die Kernphysik neue Möglichkeiten, einzelne Atome durch radioaktive Zerfälle oder künstliche Kernreaktionen zu verändern.
Nun hat die ALICE-Kollaboration am Large Hadron Collider (LHC) am CERN einen bedeutenden Schritt gemacht, indem sie erstmals die transmutationelle Umwandlung von Blei in Gold durch elektromagnetische Interaktionen bei Hochenergie-Kollisionen nachweist. Diese Entdeckung verbindet hochmoderne Technologie mit einer der ältesten Menschheitstraditionen. Der Large Hadron Collider ist der weltweit größte und leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger. Er katapultiert Bleiionen nahezu mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander. Bei sogenannten Ultra-Peripheralen Kollisionen, also sogenannten „Nahvorbeiflügen“, kollidieren die schweren Bleikerne nicht direkt.
Stattdessen erzeugen sie enorme elektromagnetische Felder, die aneinander „streifen“. Diese Felder werden dabei so stark, dass sie Photonen emittieren, welche mit den Kernen wechselwirken können. Diese Photonen induzieren eine elektromagnetische Dissoziation, bei der sich die interne Struktur des Atomkerns durch Schwingungen anregen lässt. In diesem Prozess kann es zur Emission einzelner Protonen oder Neutronen kommen. Weil Blei einen Atomkern mit 82 Protonen besitzt und Gold mit 79 Protonen, bedeutet die Entfernung von genau drei Protonen eine Verwandlung von Blei in Gold.
Das ist genau das, was bei den hochenergetischen Ultra-Peripheralen Kollisionen am LHC beobachtet wurde. Die ALICE-Detektoren sind so fein eingestellt, dass sie selbst die weniger spektakulären Ereignisse mit einer sehr geringen Zahl an erzeugten Teilchen genau erfassen können. Die sogenannten Zero Degree Calorimeters (ZDC) ermöglichen es, die Anzahl der emittierten Protonen und Neutronen präzise zu zählen. Diese präzisen Messungen zeigten, dass Prostionen und Neutronen in verschiedenen Kombinationen austreten, woraus sich die Produktion von Elementen wie Thallium, Quecksilber und eben Gold ableiten lässt. Obwohl diese Umwandlung auf atomarer Ebene in einem Hochenergie-Physikexperiment stattfand, ist die Menge an erzeugtem Gold extrem gering.
Während eines Zeitraums von Run 2 des LHC, der von 2015 bis 2018 dauerte, konnten rund 86 Milliarden Goldkerne erzeugt werden. Betrachtet man das Gewicht, entspricht dies nur etwa 29 Pikogramm – ein winziger Bruchteil eines Gramm. Selbst mit den Fortschritten und Erweiterungen im LHC-Betrieb, die bis zum aktuellen Run 3 die Menge der erzeugten Goldkerne nahezu verdoppelt haben, bleibt die produzierte Goldmenge erstaunlich klein. Ein Stück Goldschmuck oder Schmuckstück aus diesen Experimenten herzustellen ist damit weiterhin reine Utopie. Diese Erkenntnisse liefern nicht nur einen faszinierenden Beweis für eine moderne Variante der alchemistischen Träume, sondern helfen auch, theoretische Modelle zur elektromagnetischen Dissoziation zu verfeinern.
Diese Modelle sind für den Betrieb des LHC und künftiger Teilchenbeschleuniger von großer Bedeutung, da sie die Verluste im Strahl beschreiben, die durch solche Wechselwirkungen entstehen. Das Verständnis dieser Verluste ist entscheidend, da sie die Leistungsfähigkeit und Haltbarkeit der Beschleunigerkomponenten begrenzen können. Die Daten der ALICE-Detektoren ermöglichen es somit, Vorhersagen für zukünftige Maschinen zu verbessern und technische Probleme zu vermeiden. Darüber hinaus eröffnet die Untersuchung derartiger Ultra-Peripheraler Kollisionen neue Perspektiven in der Kernphysik. Während zentrale Kollisionen von Bleiionen im LHC quark-gluonisches Plasma erzeugen, ein Zustand früher Materie im Universum kurz nach dem Urknall, bieten Nahvorbeiflüge durch elektromagnetische Interaktionen einen alternativen Zugang, um die Struktur und Dynamik von Atomkernen zu erforschen.
Die von ALICE beobachteten Photon-Photon- und Photon-Kern-Wechselwirkungen bieten Einblicke in fundamentale Prozesse, die bislang schwer zugänglich waren. Die Geschwindigkeit der Bleiionen im LHC beträgt etwa 99,999993 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Diese atemberaubende Geschwindigkeit bewirkt eine Lorentz-Verkürzung des elektromagnetischen Feldes, welches wie eine extrem dünne, transversale „Pfannkuchen“-Struktur um den Kern ausgestülpt wird. Diese Konzentration führt zu starken, kurzzeitigen Photonenstrahlen, die gerade bei den Nahvorbeiflügen die innere Struktur der Atomkerne anregen und Teilchen emittieren können. Dieser Prozess ist außerordentlich selten im Vergleich zu den gewöhnlichen Kollisionen mit direktem Kontakt zwischen den Kernen, erfreut sich aber wegen seiner einzigartigen physikalischen Dynamik großer Aufmerksamkeit bei Wissenschaftlern.
Das Engagement der ALICE-Kollaboration mit ihren hochsensiblen Messinstrumenten ist bemerkenswert. Die Fähigkeit, zwischen extrem massiven Kollisionen mit tausenden erzeugten Teilchen und seltenen Szenarien mit nur wenigen Protonen und Neutronen zu unterscheiden, ermöglicht eine noch nie dagewesene Detailtiefe in der Analyse solcher Kernreaktionen. Die besondere Rolle der Zero Degree Calorimeters ist hierbei besonders hervorzuheben, da sie zum ersten Mal systematisch die Signatur der Goldproduktion experimentell detektierten und quantifizieren konnten. Trotz der winzigen Massen und der kurzen Lebensdauer des entstandenen Goldes fasziniert die Tatsache, dass im wahrsten Sinne des Wortes Blei in Gold umgewandelt wird, nicht nur Physiker, sondern auch historisch Interessierte und Laien. Die originale Alchemie war eine Lehre, die zwischen Wissenschaft, Philosophie und Mystik angesiedelt war.
Heute ist die Kernphysik der Schlüssel zu einem Teil jener Träume, umgesetzt jedoch weit weniger spektakulär und ohne wirtschaftliche Relevanz. Jedoch hat diese moderne Interpretation eine enorme Bedeutung für das Verständnis der Welt auf fundamentaler Ebene. Insgesamt zeigt die Arbeit der ALICE-Kollaboration, wie weit die moderne Hochenergiephysik und experimentelle Kernforschung mittlerweile fortgeschritten sind. Sie verbindet faszinierende physikalische Phänomene mit präzisen Messergebnissen und realisiert damit, was früher nur als Wunschdenken galt. Die Erzeugung von Gold aus Blei am LHC ist ein beeindruckendes Beispiel für den Fortschritt in der Wissenschaft und verdeutlicht den Reichtum an Erkenntnissen, die durch internationale Kooperationen in erstklassigen Forschungseinrichtungen erreicht werden können.
Die fortwährenden Verbesserungen am Large Hadron Collider, verbunden mit der Weiterentwicklung der Detektortechnologien, lassen zudem erwarten, dass zukünftig noch detailliertere und umfangreichere Messungen durchgeführt werden können. Dadurch werden neue Nuancen der elektromagnetischen Kernreaktionen sichtbar und das Verständnis komplexer physikalischer Prozesse wird weiter vertieft. Die Faszination an der Verschmelzung von antiken Vorstellungen und modernster Wissenschaft bleibt ungebrochen, und die Forschung am CERN schreibt weiterhin spannende Kapitel in der Geschichte der Physik und der Materialwissenschaften.