Die Frage, wie aus reinen Molekülen bedeutungsvolle Informationen hervorgehen können, beschäftigt seit Langem Biologen, Philosophen und Informationswissenschaftler. Moleküle sind zunächst physikalische Objekte, die bestimmten chemischen Gesetzen folgen. Doch in lebenden Organismen erfüllen sie eine zusätzliche Rolle, die über reine physikalische Eigenschaften hinausgeht: Sie dienen als Träger von Zeichen und können interpretiert werden. Der Prozess, bei dem Moleküle zu Zeichen werden, stellt eine der tiefsten Herausforderungen in der Erforschung des Lebens und seiner Entstehung dar. Wie wird aus der toten Materie ein System, das Bedeutung konstruiert, interpretiert und weitergibt? Die Beschäftigung mit dieser Frage ist der Kern der Biosemiotik – einer Disziplin, die biologische Prozesse durch die Linse der Semiotik betrachtet, der Wissenschaft der Zeichen und ihrer Bedeutungen.
Bereits Erwin Schrödinger beschäftigte sich 1944 in seinem bahnbrechenden Werk „Was ist Leben?“ mit der Frage, wie biologische Systeme eine Organisation aufrechterhalten, die thermodynamisch weit entfernt vom Gleichgewichtszustand liegt. Seine Vorstellung vom „aperiodischen Kristall“ als Informationsträger hat letztlich den Weg zu den Entdeckungen der DNA-Struktur durch Watson und Crick sowie zur Formulierung des „zentralen Dogmas“ der Molekularbiologie durch Francis Crick bereitet. Letzteres besagt, dass genetische Information von DNA über RNA zu Proteinen fließt und nicht in umgekehrter Richtung. Damit wurden Moleküle wie DNA und RNA zu vermeintlichen Informationsspeichern, deren Sequenzen als biologische Signale betrachtet wurden. Im Laufe der Zeit hat sich jedoch gezeigt, dass das Verständnis von Information in der Biologie deutlich komplexer ist, als bloß eine materiell – durch molekulare Strukturen – kodierte Nachricht zu sein.
Der Informationsbegriff hatte sich in Richtung reiner Replikation und Mustererkennung verschoben, was zu einer Reduktion der biologischen Bedeutung von Information führte. Richard Dawkins präsentierte in seinem Werk „Das egoistische Gen“ die DNA-Sequenz als das zentrale „Gen-Selbst", deren Kopie und Replikation als essentiell für das Leben galt – eine Ansicht, die eng mit Claude Shannons mathematischer Informationstheorie verbunden ist, die allerdings bewusst die semantische Dimension ignoriert, denn für Shannon geht es allein um die Übertragung von Nachrichten und nicht um deren Bedeutung. Der entscheidende Punkt aber ist: Ein physikalisches Muster an sich ist nicht über irgendetwas. Die Sequenz der Nukleotide in einer DNA-Molekülkette ist ohne die interpretierenden Systeme im Zellinneren nur eine molekulare Struktur. Für ihre typisch biologische „Bedeutung“ erfordert es einen Prozess der Interpretation – eine Fähigkeit, die weit über bloße Replikation hinausgeht.
Ein Molekül wird erst dann zum Zeichen, wenn es von einem System so gedeutet wird, dass es „für etwas“ steht und dadurch eine Funktion innerhalb des Systems erfüllt. Ein theoretischer Einblick in diese Prozesse wird durch Modelle autogener Viren möglich. Diese hypothetischen Systeme kombinieren selbstorganisierende molekulare Prozesse – namentlich reziproke Katalyse und Selbstassemblierung – um sich in einem geschlossenen Kreis selbst zu erhalten und zu reproduzieren. Hierbei erfüllen einzelne Moleküle spezielle Rollen, deren wechselseitige Abhängigkeiten ihre selbstständige Reproduktion und Stabilität gewährleisten. Die Selbstassemblierung von Proteinhüllen zum Beispiel bildet eine physische Barriere, die die für den Katalyseprozess wichtigen Moleküle in einer Umgebung hält, die ihre Funktion ermöglicht.
Zugleich unterstützt die Katalyse die Produktion der Bestandteile der Hülle, sodass eine wechselseitige Abhängigkeit entsteht. Diese Prozesse bilden einen autogenen Arbeitszyklus, eine Art molekularen Motor, der Energie aus der Umgebung aufnimmt, verarbeitet und Arbeit verrichtet, um die eigene Struktur zu erhalten und zu reproduzieren. Dabei ist die Integration dieser dynamischen Abläufe das wesentliche Merkmal, durch welches ein System Autonomie und Individuation erlangt. Es besitzt die Normativität, das heißt die Tendenz, bestimmte Zustände beizubehalten oder wiederherzustellen, was sich als grundlegend für ein einfaches interpretatives Verhalten erweist. Die Interpretation innerhalb solcher Systeme zeigt sich zuerst in der grundlegendsten Form als Unterscheidung von Selbst und Nicht-Selbst.
Störungen der molekularen Integrität signalisieren Fremdes oder Schäden und initiieren die Reparaturprozesse. Dieses ikonische Interpretationsniveau, bei dem jedes Zeichen ununterscheidbar als Störung im System gilt, bildet die semantische Basis auf der weitere Formen von Zeichensetzung aufbauen können. Eine weiterentwickelte Fähigkeit innerhalb solcher autogenen Systeme wäre eine indexikalische Interpretation, die es erlaubt, vorherrschende Umweltbedingungen wahrzunehmen und auf deren Grundlage adaptive Reaktionen einzuleiten. Zum Beispiel könnte die Stabilität der Virushülle je nach Bindung externer Moleküle variieren, was deren Freisetzung und Reproduktion bei passenden Umweltbedingungen begünstigt. Die Übersetzung von Umweltinformationen in systemrelevante Zustandsänderungen ist damit ein zentraler Schritt zur Entstehung biologischer Bedeutungsgebung.
Der entscheidende Übergang von molekularen Strukturen zur biologischen Information liegt jedoch in der Kopplung solcher Systeme an Nukleinsäuren – DNA und RNA. Interessanterweise könnten langkettige Nukleotide zuerst als Energiespeicher fungiert haben, bevor sie im Laufe der Evolution als Informationsmedien ausgeprägt wurden. Dies entspricht einem zweiphasigen Modell, das Freeman Dyson vorgeschlagen hat, in dem energietragende Nukleotide eine Brücke zwischen Stoffwechselprozessen und Informationsspeicherung darstellen. Die besondere Fähigkeit der Nukleinsäuren liegt in ihrer linearen, relativ inert strukturierten Polymerform, die variable Sequenzen speichern kann. Diese Sequenzen beeinflussen wiederum die dreidimensionale Faltung der Moleküle, was wiederum die Bindung von Enzymen und anderen Proteinen determiniert.
Über Komplementaritäten in der Molekülstruktur ermöglichen diese die selektive Bindung spezifischer Proteine, was wiederum molekulare Reaktionen innerhalb des Systems steuert und reguliert. So entsteht eine Code-ähnliche Beziehung zwischen physikalisch völlig verschiedenen Molekülklassen – die Grundlage für den genetischen Code. Durch eine solche Übertragung von dynamischen Constraints – also einschränkenden Bedingungen molekularer Interaktion – von reaktiven Katalysatoren auf ein vergleichsweise inert stabiles Polymer, ist eine zweistufige semantische Funktion entstanden. Die Nukleinsäuresequenz dient als Referenzmedium, die Proteine als ausführende Akteure. Durch diese Verschiebung von Constraints auf ein beständiges Medium wird eine höhere Stabilität und Zuverlässigkeit der biologischen Informationsspeicherung erreicht.
Gleichzeitig ermöglicht sie semantische Rekursion, da die Interaktion der Sequenzen selbst wiedergegenständlicht und so langfristig erhalten werden kann. Dies illustriert einen fundamentalen Aspekt von Biosemiosis: Bedeutungsbildung ist keine Eigenschaft eines einzelnen Moleküls, sondern entsteht aus der Wechselwirkung zwischen einem Zeichen (Signifikat), dessen Träger (Signifikant) und einem interpretierenden System. Die semantische Funktion von Molekülen wie DNA entsteht also nicht primär durch ihre Struktur, sondern durch die interpretativen Fähigkeiten lebender Systeme, die diese Struktur im Kontext funktionaler Bedeutungen deuten und nutzen. Die Konzepte der semiotischen Gerüstarbeit, wie sie Jesper Hoffmeyer und andere Biosemiotiker entwickelt haben, zeigen darüber hinaus, wie diese molekularen Prozesse durch verschiedene Ebenen biologischer Organisation hindurch verschachtelt werden können. Von molekularer Ebene über Zell- und Gewebeebene bis hin zu ganzen Organismen und sozialen Gemeinschaften entstehen durch ausgeklügelte Transfers und Rekursionen von Zeichen zunehmend komplexe interpretative Fähigkeiten.
Zusammenfassend offenbart die Betrachtung der Entstehung biologischer Information durch die Linse der Biosemiotik eine Revolution im Verständnis von Leben. Nicht die Moleküle selbst sind die ursprünglichen Informationsquellen, sondern die dynamischen Systeme, die sie interpretieren, strukturieren und damit Bedeutung generieren. Moleküle wurden zu Zeichen, weil sie sich in Prozesse eingliederten, die ihre Eigenschaften als semiotische Mittel nutzen konnten. Dadurch entstanden Strukturen, die sich selbst erhalten, reproduzieren und weiterentwickeln konnten – die lebenden Systeme. Dieser paradigmatische Wandel fordert eine Hinwendung zu interdisziplinären Ansätzen, die Chemie, Physik, Biologie und Semiotik miteinander verbinden.
Er unterstützt die Vorstellung, dass biologische Information nicht nur ein physikalisches Muster ist, sondern ein funktionales Zeichen, dessen Bedeutung aus der Interpretation im lebenden Kontext erwächst. Für die Zukunft verspricht dieses Verständnis neue Einblicke in die Ursprünge des Lebens, die Entwicklung biologischer Komplexität und vielleicht sogar die Erschaffung künstlicher Lebensformen.