Seit über 1.500 Jahren pflegt das indigene Mixteken-Volk an der Pazifikküste Mexikos eine fast vergessene Kunst: die Melkung seltener Purpurnschnecken zur Gewinnung eines einzigartigen Farbstoffs. Diese Tradition ist nicht nur ein künstlerisches Erbe, sondern auch ein kulturelles Symbol, das tief mit der Identität der Gemeinschaft verankert ist. Doch die molluskenmelkende Kunst befindet sich am Rande des Aussterbens. Die purpura-columellaris-Schnecke, deren Tinte den leuchtenden Purpurton erzeugt, ist heute nur noch schwer zu finden und wird von verschiedenen Bedrohungen heimgesucht, die das Fortbestehen der Praxis gefährden.
Die Küste von Oaxaca, insbesondere die Region um Pinotepa de Don Luis, ist der letzte verbliebene Ort, an dem diese altehrwürdige Technik noch ausgeübt wird. Dort sucht der 81-jährige Mauro „Habacuc“ Avendaño, gemeinsam mit seinem Sohn Rafael, die felsigen Küstenabschnitte bei Ebbe ab, um die Purpurnschnecken behutsam von den Felsen zu lösen. Das Risiko auf den rutschigen, vom Meer umtosten Klippen ist hoch; Schlagzeilen von verunglückten Fischerfamilien zeugen von der Gefahr, die sie täglich eingehen. Trotz aller Widrigkeiten ist eifriger und behutsamer Umgang mit den Tieren essenziell, denn nur so kann die Schnecke überleben und sich regenerieren. Die sogenannte „Melkung“ bedeutet, die Schnecke vorsichtig zu reizen, um wenige Tropfen einer milchigen, giftigen Tinte zu gewinnen, die später die charakteristische Purpurfarbe entfaltet.
Diese Farbe, „tixinda“ genannt, hat für die Mixteken eine hohe spirituelle und kulturelle Bedeutung. Sie gilt als heilig, symbolisiert Zugehörigkeit, Tradition und das kulturelle Erbe der Gemeinschaft. Stoffe und Kleidungsstücke, die mit der Schneckentinte gefärbt werden, gelten als haltbar und bleibend, wobei die Farbe auch nach Jahrzehnten nicht verblasst. Die Farbe variiert im Verblassungsprozess von gelb über grün zu einem intensiven Lavendel- und Amethystfarbton, der nur durch Sonnenlicht zur vollen Pracht erwacht. Früher konnten die Mixteken mehrere Tausend Schnecken pro Tag melken; heute sind es kaum noch hundert.
Die Gründe hierfür sind vielfältig. Die massenhafte Ausbeutung in den 1980er und 1990er Jahren war verheerend. Als japanische Firmen Interesse an der besonderen Farbtinte zeigten, wurden Fischer angeheuert, die Schnecken rücksichtslos gemolken und danach oft getötet zurückgelassen. Das führte zu einem drastischen Rückgang der Population. Die purpura-columellaris wurde zum Schutz 1994 unter Naturschutz gestellt und die Melkung nur noch den Mixteken erlaubt.
Dennoch bleiben illegale Fischerei und Wilderei ein Problem, da touristischer Druck und Nachfrage nach Meeresfrüchten in der Küstenregion steigen. Auch Naturereignisse wie das Erdbeben 2020, das die Küstenlinie hob und somit neue Zugänge zu vormals unzugänglichen Felsbereichen öffnete, verschärfen die Lage der Schnecken zusätzlich. Die fortschreitende Urbanisierung und Errichtung von Hotels, Straßen und touristischen Infrastruktur bedroht das sensible Ökosystem, in dem die Schnecken leben. Ihre Nahrungsketten sind durch das Absterben von Korallen und anderen Meeresorganismen gestört. Dies gefährdet nicht nur die Schnecken selbst, sondern indirekt auch das kulturelle Überleben der Tradition.
Trotz aller Schwierigkeiten halten die verbliebenen „tintoreros“ – wie die molluskenmelkenden Männer genannt werden – die Tradition lebendig. Sie sind sich der Verantwortung bewusst und befolgen strenge Regeln, um die Schneckenpopulation zu schützen, etwa indem nur ausgewachsene Schnecken über 3 cm Größe gemolken werden und Schutzzeiten während der Fortpflanzung eingehalten werden. Dieser nachhaltige Umgang unterscheidet sich deutlich von der Ausbeutung vergangener Jahrzehnte. Die Rolle der Mixteken geht jedoch über reine Gewinnung der Tinte hinaus. Sie sind Hüter der Kultur und spielen eine wesentliche Rolle im Erhalt des Wissens rund um die Molluskenmelkung.
Frauen innerhalb der Gemeinschaft weben die mit Schneckentinte gefärbten Garne zu traditionellen Textilien, die Weitergabe dieser Handwerkskunst von Generation zu Generation sichert das kulturelle Fortbestehen. Doch die Zahl der Praktizierenden schrumpft dramatisch. Nur 14 Männer in Pinotepa de Don Luis führen diese Arbeit fort, viele jüngere Menschen wenden sich anderen Berufen und Lebensweisen zu. Die Sorge um das nachhaltige Überleben der Technik ist groß. Neben gesellschaftlichen Veränderungen spielen Umwelteinflüsse und geringe staatliche Schutzmaßnahmen eine wichtige Rolle beim Überleben der Purpurnschnecke und ihrer Nutzung.
Um dem Trend entgegenzuwirken, setzen sich Forscher, Umweltschützer und die Mixteken-Gemeinschaft gemeinsam für mehr Aufklärung und Schutzmaßnahmen ein. Bildungsprogramme, die den Wert und die Bedeutung der Schnecken sowohl für die Umwelt als auch für die Kultur hervorheben, sollen ein Bewusstsein in den Fischergemeinden schaffen, um Wilderei zu minimieren. Gleichzeitig sollen staatliche Kontrollen und Ressourcen für den Schutz der Küstenregionen ausgebaut werden, um die Lebensräume der Schnecken besser zu sichern. Die Geschichte der Molluskenmelkung ist ein eindrucksvolles Beispiel für die enge Verknüpfung von Biodiversität, Kultur und nachhaltiger Nutzung. Der einzigartige Purpurdruck der Purpurnschnecke bringt nicht nur Farbe ins Leben, sondern erzählt auch von jahrtausendelanger menschlicher Handwerkskunst, die es zu bewahren gilt.
Die Mischung aus behutsamem Umgang mit der Natur, ökologischer Verantwortung und der Pflege traditionellen Wissens zeigt auf, wie indigene Kulturen weltweit zu Vorreitern im Naturschutz werden können. Die Zukunft der Purpurnschnecke und der Molluskenmelkung hängt von vielfältigen Faktoren ab. Nur wenn indigene Gemeinden unterstützt werden, ihre Rechte auf traditionelle Nutzung gewahrt bleiben und Umweltpolitik konsequent angewandt wird, lässt sich dieses kostbare Erbe bewahren. Der Verlust dieser Kunst würde nicht nur einen biologischen Schaden bedeuten, sondern auch das Verschwinden eines lebendigen kulturellen Symbols und Handwerks, das die Menschheit seit Jahrhunderten begleitet. So sind es heute Männer wie Habacuc und Rafael, die nicht nur als Sammler, sondern als Botschafter und Bewahrer fungieren.
Trotz sinkender Erträge und großer Herausforderungen setzen sie die Tradition fort, nicht aus Profit, sondern aus tiefem Respekt und der Verpflichtung gegenüber ihren Vorfahren. Ihre Aufgabe ist es, die Geschichten, Techniken und Geheimnisse weiterzugeben, damit auch kommende Generationen den Zauber der Purpurnschnecke erleben können. Die Molluskenmelkung in Mexiko ist somit weit mehr als ein Handwerk: Sie ist ein Symbol für kulturelle Identität, für die Verbundenheit mit der Natur und ein Appell, die zerbrechliche Balance zwischen Mensch und Umwelt zu achten und zu schützen. Nur durch gemeinsames Engagement, nachhaltiges Handeln und Wertschätzung dieses Erbes lässt sich das Sterben dieser faszinierenden Tradition aufhalten und ein lebendiges Kapitel menschlicher Kulturgeschichte bewahren.